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Wien
20. 11. 88
Lieber Siegfried Unseld,
vor zwei Tagen war ich hier mit Herrn Jung vom Residenzverlag zusammen und ich bedauerte bei dieser Gelegenheit sehr, dass die Verleger sich offensichtlich nicht geeinigt haben, meine biografischen Bücher betreffend. Ich selbst mische mich in die Angelegenheit, wie gesagt, nicht mehr ein.
Ich habe Herrn Jung ein Manuskript zur Veröffentlichung gegeben, das unmittelbar mit der Stadt Salzburg in Beziehung steht und im Hinblick darauf, dass ich ja im Suhrkampverlag nächsten Herbst ein Buch herauszugeben plane nächstes Frühjahr erscheinen soll. »In der Höhe, Rettungsversuch, Unsinn« ist sein Titel; der Vertrag ist so beschlossen, dass er dem Residenzverlag nur eine einzige Herausgabe gestattet, sonst nichts und der Weg für die Bibliothek Suhrkamp, in die hinein ich das Buch, zwei Jahre später, wünsche, offen ist.1 Vielleicht ist dieses Buch ein Anlass für Sie, nocheinmal eine Einigung mit dem Residenzverlag, meine biografischen Bücher betreffend, zu versuchen. Jung sagte, Sie hätten ihm auf einen Brief, den er vor über einem Jahr an Sie abgeschickt habe, bis heute nicht geantwortet.
Was »Heldenplatz« betrifft, sind sämtliche Vorstellungen ausverkauft und die Abende verlaufen in aller Ruhe mit der grössten Aufmerksamkeit des Publikums, das am Ende jedesmal den grösstmöglichen Beifall auf die Bühne schickt. Leider sind alle Kritiken Blödsinn, weil die Leute sich nie die Mühe machen, das Buch zu lesen, sie schauen ja nicht einmal wirklich hinein; aber das bin ich gewohnt. Die Zukunft wird gerade dieses Stück als ein ganz besonderes erkennen und mir in allen Punkten rechtgeben. Schon jetzt enthüllt sich sein Wahrheitsgehalt abendlich auf die schönste Weise. Ganz abgesehen davon, dass es auch, was meine »künstlerische« Arbeit betrifft, seinem Erzeuger Freude macht.
Ein Suhrkampspruchband-Inserat in den Zeitungen hätte ihm sicher auch nicht geschadet.2
Sonntag den 27. geht es nach Spanien. Nach dem Sacher wäre doch ein Meer-Treffen gar nicht so abwegig.3
Ihr
Thomas B.
1 In der Höhe, Rettungsversuch, Unsinn erscheint im Februar 1989 im Residenz Verlag. Das Manuskript entsteht bereits in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre und wird von Th. B. für den Druck stark überarbeitet. Es wird 1990 als Band 1085 in die Bibliothek Suhrkamp aufgenommen. Siehe Th. B.: Werke 11, S. 336ff.
2 Die Uraufführung von Heldenplatz findet am 4. November 1988 am Wiener Burgtheater statt, Regie führt Claus Peymann. S. U. notiert unter diesem Datum in seiner Chronik:
»Welch ein Tag! Vormittags bei Marianne Fritz. Sie tadelt mich gleich, weil ich Bernhard als einen Übertreibungsspezialisten bezeichnet habe, was doch Bernhards eigenes Wort ist. Bernhard untertreibe, meinte sie. Die Wiener Verhältnisse seien viel schlimmer, als Bernhard sie darstelle. Das war gewissermaßen das Wort am Morgen zur Aufführung am Abend. […]
Am Abend dann die Aufführung von Bernhards ›Heldenplatz‹ an der Burg. Difficile est satiram non scribere. Zwei Monate lang skandalumwitterter Sturm. Soll das Stück verboten werden, soll Peymann Österreich verlassen? Schmutztiraden und Drohungen gegen Bernhard. Von der ›Presse‹ abgesehen, machen sich die wichtigsten publizistischen Organe ohne Erlaubnis über den unbekannten Text her, zitieren Auszüge aus Vorfassungen. Wir gehen gegen ›Basta‹ und die ›Kronenzeitung‹ rechtlich vor. Unser Anwalt, Dr. Guido Kucsko, erwirkt einen gerichtlichen Titel gegen die Zeitungen, die sich öffentlich entschuldigen müssen, aber in der Entschuldigung wieder verhöhnen.
Am Tage Demonstrationen, dann Gegen-Demonstrationen, schließlich Gegen-Gegen-Demonstrationen. Als Ulla und ich an der Burg ankommen, eine riesige Menschenmenge und Leute der Rechten, die Mist abladen wollen. Im Kartenraum stauen sich Leute, die noch Karten haben wollen. Die Aufführung findet unter Polizeischutz statt. Aber ich muß sagen: die Polizei verhielt sich äußerst vernünftig, und Uniformierte waren eigentlich nur als Ehrengäste der Aufführung sichtbar.
Pünktlich am Vormittag fuhr unsere Auslieferungsstelle Mohr-Berger den Band in der BS an Wiener Buchhandlungen aus. Nun erst konnten also Freunde und Gegner den Text kennenlernen. Das Theater mußte sich gegen die Unterstellung im Österreichischen Parlament wehren, es habe aus Angst vor Tumulten Karten nur an Sympathisanten gegeben. Das ist nicht der Fall. Freilich hatte Peymann Politiker, so den österreichischen Außenminister, als ›Freikartenschnorrer, die wir nicht brauchen im Theater‹, bezeichnet.
Beginn der Aufführung um 19 Uhr. Es ist auffallend ruhig, scheinbar entspannt. Aber als in der theatralisch schwachen ersten Szene Anneliese Römer als Wirtschafterin Zittel auftrat und die erste kritische Bemerkung zu Wien und Österreich machte, da gab es eine Pfeif-Orgie wie wohl nie in der Burg. Die Pfeif-Orgie rief nun den Beifall auf offener Szene hervor, und je höher die Pfeif-Orgie sich steigerte, um so mehr steigerte sich der Beifall zum Orkan, und im Duell des Protestes und der Zustimmung siegte besonders durch eine wohlkomponierte und vom Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann schön gestaltete zweite Szene das Ganze zu einem Triumph für Bernhard und Peymann. Statt zweieinhalb Stunden dauerte das Ganze fast fünf Stunden. In der Pause große Diskussionen, am Schluß Diskussionen, aber im Grunde genommen war alles erleichtert. Die Protestierenden wie die Sympathisanten. Am Schluß Ovationen für Schauspieler, für Peymann und für den zum ersten Mal und völlig überraschend auf die Bühne kommenden Thomas Bernhard. Es war auch für ihn ein bewegender Augenblick. Ein Schriftsteller wurde zum Repräsentanten des Landes.
Das Stück mag Schwächen haben, die Inszenierung nicht bis ins letzte durchgefeilt, aber was geboten wurde, war doch großartiges Theater. Ich sagte es am Schluß im Österreichischen Fernsehen: ein Triumph für das Stück und den Autor, ein Triumph für Peymann, aber auch ein Triumph für dieses Wiener Publikum.
Die Sonntags- und Montagszeitungen hatten nur ein Thema: Peymann-Bernhards Wiener Welttheater. Rolf Hochhuth in der ›Welt am Sonntag‹: ›Die Zuschauer standen auf vor dem Autor, dem am Freitag abend die Landsleute mit dieser Huldigung bestätigt haben, daß er seit dem Tode Lernet-Holenias der größte Dichter Österreichs ist.‹
Ein Triumph war es auch für den Schauspieler Wolfgang Gasser, der den Bruder von Professor Schuster verkörpert. Razumovsky wird in der ›FAZ‹ schreiben: ›Dieser Professor Robert hat Sätze zu sagen, die die Schulkinder hier, ob’s dem Autor paßt oder nicht, in Zukunft neben einigen Grillparzers werden auswendig lernen dürfen: «Die Österreicher sind vom Unglück Besessene; der Österreicher ist von Natur aus unglücklich – und ist er einmal glücklich, schämt er sich dessen und versteckt sein Glück in seiner Verzweiflung.»‹ Das Ganze, so Razumovsky, ›eine Art hohe Kunstpflege, eine Art Virtuosentum des Wutanfalls. Hier ist Bernhard deutlich Fortsetzer der österreichischen Literaturtradition von Raimund und Nestroy bis Doderer.‹«3 Diese letzte Auslandsreise führt Th. B. bis zum Jahresende 1988 nach Torremolinos an die Costa del Sol.