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Ohlsdorf
23. 6. 69
Lieber Doktor Unseld,
einen Abstecher von zwei Tagen nach Frankfurt zu machen, weil ich glaube, dass ich einmal meinen Verleger wieder von Angesicht zu Angesicht sehen muss, sein neues Haus, die Lektoren etcetera, wäre mir vor dem 20. Juli recht, ich würde am 17. in Frankfurt ankommen und am 19. abends wieder wegfahren, vorausgesetzt, dass mich der Verlag tatsächlich auf seine Kosten fahren lässt, ich selbst habe kein Geld für einen derartigen Ausflug.
Ich halte es für besser, zu reden, als zu korrespondieren, denn in der Korrespondenz kreuzen sich seit Jahrtausenden die Missverständnisse, wie Sie wissen.
Was mit dem »Boris« ist et cetera und überhaupt.
Heute ist mir eingefallen, ob der Verlag nicht den toten »Frost« wiederauferstehen lassen könnte in einer nützlichen Form. Das Buch ist jahrelang eine Leiche, die es nicht verdient, etc. Ein junger Mann dissertiert heuer über meine Arbeit und ich habe eine wunderbare Arbeit von ihm über »Ungenach« bekommen, Grundlage, Ausgangspunkt seiner Dissertation, eine geglückte Seminararbeit.1 Eine Doktorin in Wien dissertiert an der dortigen Uni über »Die Begriffe aus der Welt des Theaters in Th. B.s Verstörung«.2 Und gestern abend hörte ich eine einstündige Diskussion im Radio, das ich selten aufdrehe, in welcher beinahe nur über »Frost« geredet worden ist und mehrere Universitätsprofessoren schliesslich darüber stritten, ob Homer oder Th. B. mehr gewusst hat. |Unsinn.|
Das freut mich natürlich und es ist ganz gut, dabei hier zu sein und sich um nichts andres zu kümmern als über das mir am nächsten liegende Buch, nämlich »Watten«.
Ich werde »Watten« mitbringen.
Es ist unbedingt notwendig, dass ich nach Frankfurt komme, weil eine Reihe Unklarheiten geklärt werden müssen, soweit sie sich klären lassen.
Auch bitte ich Sie jetzt einmal endgültig darüber nachzudenken, ob ich gegen den Winter zu eine Amerikareise machen kann, die mich nichts kostet. November, Dezember wäre Zeit dazu.
Ich freue mich
herzlich
Thomas Bernhard
1 An Hedwig Stavianicek schreibt Th. B. am 17. Juni 1969: »Ein Herr Höller dissertiert über mich an der Salzburger Universität und hat ein Manus der Arbeit geschickt, die mir ausgezeichnet gefällt, in meinem Sinne ist, gescheit, poetisch, unbekümmert um den faulen widerwärtigen Zeitgeschmack.« Die Dissertation wird 1973 angenommen und 1979 unter dem Titel Kritik einer literarischen Form. Versuch über Thomas Bernhard veröffentlicht.
2 Inez Kykal: Der Wortschatz aus dem Bereich des Theaters in Thomas Bernhards »Verstörung«. Unpublizierte Seminararbeit der Universität Linz.