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Ohlsdorf
29. 11. 78
Lieber Siegfried Unseld,
der 23. November, der letzte Donnerstag, wird mir in Erinnerung bleiben. Es war (und ist!) beschämend. Was mich betrifft, ist es deprimierend, jetzt auch nur an Deutschland zu denken. Wenn Sie selbst nicht Zeuge gewesen wären, müsste ich die Vorfälle in der Münchner Aula rekapitulieren, ich habe eine erschreckende Erfahrung mehr gemacht, die nicht bagatellisiert werden darf, wenn ich mein Leben und meine Existenz ernst nehme und wenn ich auch die Gesellschaft, in welcher zu existieren ich gezwungen bin, ernst nehme.
Das Recht jedenfalls, von welchem in Deutschland gerade heute soviel gesprochen wird, ist an diesem Abend auf den Kopf geschlagen worden und es geht nicht nur um mein ganz persönliches Recht, sondern auch um das von Hunderten von anderen Menschen, die an diesem Abend von einer gemeinen und niederträchtigen Minderheit, sie mag sich selbst bezeichnen als was immer, eines besseren und das heisst, abstossenden Demokratieverständnisses belehrt worden sind.
Ganz abgesehen davon, dass ich schliesslich als Ausländer und eingeladener Gast der Stadt München in der Universität aufgetreten bin.
Ich glaube, der Schritt von der gewalttätigen Behinderung einer (in diesem Falle meiner) mit dem umgekehrten Gastrecht geohrfeigten Person – und die Unterdrückung war ja mehr oder weniger eine brutal-physische, wie Sie gesehen haben – bis zur Vernichtung dieser Person (und ihrer Arbeit), ist kurz. Dagegen wäre ja die Bücherverbrennung ein geradezu symbolischer Akt.
Je mehr ich über die Vorfälle nachdenke, desto unheimlicher sind sie mir, wenn sie auch nichts anderes sind, als eine Bestätigung meiner Schriften.
So erschreckend diese Vorfälle im Hause der Geschwister Scholl für mich waren und sind, viel erschreckender ist mir die Tatsache, dass ich mich in meinem Erschrecken, alleingelassen fühle. Die deutsche Wirklichkeit ist viel brutaler und gemeiner als der wenn auch aufmerksame Beobachter als Schriftsteller, glaubt.
Wie die »Abendzeitung« schreibt, habe Herr Kroetz, auf den letztenendes diese Vorfälle des 23. zurückzuführen waren, ein paar Tage nach dem 23. einen Auftritt in einem Münchner Kabarett gehabt. Er habe in diesem Kabarett, der Münchner »Lach&und Schiessgesellschaft« gesagt, er »habe seinen Leuten nicht erlaubt, die Bernhard-Vorlesung kaputt zu machen«. Seine Leute haben sich aber nicht an den Befehl von Kroetz gehalten. Herr Kroetz hat, laut »Abendzeitung«, begeisterte Lachstürme geerntet. Herr Kroetz und seine Leute erinnern mich an die Münchner Nazis.1
Die deutsche Schizophrenie ist eine Jahrhundertgeisteskrankheit. Zuerst habe ich mir gedacht, du musst es nicht ernst und leicht nehmen. Jetzt habe ich es aber ernst und schwer nehmen müssen.
Ich habe mich sehr über Ihre Anwesenheit gefreut.
Sehr herzlich Ihr
Thomas Bernhard
1 In der Münchner Abendzeitung berichtet Andreas Müller unter der Überschrift Kein rotes Monstrum (28. November 1978) über den Auftritt von Franz Xaver Kroetz am 26. November 1978 in »Lach & Schieß-Talk«: »Stückeschreiber Franz Xaver Kroetz, erst unlängst von der Münchner Universität als staatsgefährdend verjagt, riß in der sonntäglichen Talkshow der Münchner Lach- & Schießgesellschaft das Publikum zu Lachstürmen hin. Die Gefährlichkeit dieses Mannes war keinen Augenblick auszumachen. [. . .] Seine [Kroetz’] Anhänger strömten zu einer zufällig gleichzeitig in der Aula angesetzten Lesung des österreichischen Schriftstellers Bernhard. Was sie dort taten, so erklärte Kroetz in der Talkshow, hätte er niemals erlaubt. ›Ich habe meinen Leuten ausdrücklich verboten, die Bernhard-Lesung kaputtzumachen.‹ Das Kroetzsche Machtwort war leider fruchtlos. Dieser charmante, ältere Knabe hatte offenbar auf das, was er auslöste, keinen Einfluß.«