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Ohlsdorf
8. 8. 72
Lieber Doktor Unseld,
Ihren Besuch in Ohlsdorf sollten Sie bald einmal wiederholen, vor allem, wenn die Atmosphäre eine beruhigte und ohne Theater und ohne Menschen ist, die im Gehen und Laufen und Schwimmen nicht mithalten.
Unsere Salzburger Unternehmung ist geglückt. Dass es zu einem, wie Sie inzwischen wissen, Abbruch der Vorstellungen gekommen ist, ist bedauerlich, aber doch konsequent und schadet auf keinen Fall. Tatsächlich ist Peymann vollkommen im Recht und wenn es sein muss, wird ein Gericht das Urteil über Salzburg fällen, diesem Urteil können Peymann und seine Leute ruhig entgegensehen, mir ist der Sachverhalt klar, die Schuld eine eindeutige auf seiten der Festspieldirektion. Nur muss alles jetzt mit klarem Kopf geklärt werden, Peymann, der nicht immer vernünftig ist, habe ich strikte Empfehlungen gegeben, meine Gerichtspraxis kommt mir jetzt wieder einmal zu gute und mein Instinkt, doch meine Unbestechlichkeit in Rechtsdingen.1
Dass die Einmaligkeit der Aufführung für mich einen besonderen Reiz hat, brauche ich Ihnen nicht extra zu betonen.
Wahrscheinlich spielt das ganze Ensemble in Hamburg oder an der Berliner Schaubühne das Stück weiter. Doch diese Fragen müssen erst geklärt werden.
Unser Vertrag besteht und kann nicht geändert werden.
Die Aufzeichnung kommt jedenfalls zustande, wenn nicht mit den scheusslichen Wienern, so mit den Deutschen.
Der Boden für das Stück ist gut bereitet, glaube ich.
Ihren Vorschlag, Bruno Ganz nicht unter den Titel zu drukken, muss ich als guten bezeichnen und halte mich daran, jedenfalls vorläufig, solange unser Stück noch andere Aufführungen findet. Dann kann die Widmung ja geschehen.2
Über das neue Stück herrscht absolutes Stillschweigen, das soll auf allen Seiten eingehalten sein.
Nocheinmal Peymann: er hat unglaubliches Glück gehabt. Mehr nicht darüber, dadurch haben wir auch Glück gehabt.
Die Vorgänge in Salzburg passen mir genau in meine »Korrektur«-Arbeit, als hätte ich sie für den letzten Schliff gebraucht. Das Buch hat mich ganz in der Hand, wie umgekehrt.
Darf ich bitten, mich über alle auch nur halbwegs interessanten Vorgänge und Aussichten, unser Stück betreffend, zu informieren und mich nicht ohne Nachrichten zu lassen, besser zuviel als gar keine.
Meine Periode ist die beste, dass ich gute Nerven habe, ist ein grosser Vorteil. Andere haben sie nicht.
Denken Sie daran, dass es hier herrliche Spaziergänge und überall hinter den Bäumen Telefone gibt, über die Sie Frau Zeeh erreichen kann. Vielleicht einen Herbstbesuch, Spätsommerbesuch?, wenn ich, etwa in vier fünf Wochen, die »Korrektur« wieder ganz in Ruhe lasse.
Zum Finanzbrief: mir ist nicht alles klar, aber, wenn es Ihnen klar gewesen ist, will ich das Ganze naturgemäss akzeptieren. Ich bitte Sie, mir die neuen 20tausend so bald als möglich auf mein Gmundner Konto zu überweisen, es haben sich eine MENGE Rechnungen gestapelt etcetera. Dann, nach der Aushändigung der »Korrektur«, sollten wir einmal wieder ein klares, bindendes Gespräch führen.
Bitte grüssen Sie Rach und Busch und die Anderen.
Thomas Bernhard
Mein korrigiertes Stückexemplar mit Frau Vargos Auftritt in Kürze.3
P. S. 2: In Salzburg sind wir in die Hölle gegangen, aber ohne Verbrennung wieder heraus, härter, klarer als vorher.
1 Der »Sachverhalt«, um den es hier geht, ist als sogenannter »Notlichtskandal« in die Theatergeschichte eingegangen. (Siehe Th. B.: Werke 15, S. 470ff.) Entgegen einer Zusage bleiben die Notlichter bei der Uraufführung von Der Ignorant und der Wahnsinnige im Salzburger Landestheater in der Schlußszene – die Regieanweisung lautet: »Die Bühne ist vollkommen finster« – eingeschaltet; daraufhin kommt es – abgesehen von der bereits vorher vereinbarten Fernsehaufzeichnung – zu keiner weiteren Aufführung. Hilde Spiel resümiert den Skandal: »Zwei Minuten völliger Finsternis fordern Regisseur und Autor für den Schluß des Stücks, in dem, als Sinnbild eines totalen Kataklysmus, auf der Bühne ein Tischtuch hochgezogen und seiner Teller, Gläser, Flaschen entledigt wird. [. . .] Brennt die Notbeleuchtung, dann wird der Vorgang von Augen, die sich rasch an die Verdunkelung gewöhnen, mit angesehen. Die Feuerpolizei, sich berufend auf eine Verordnung aus dem Jahre 1884, als in Wien das Ringtheater brannte, besteht auf ihrem Scheinen. Der Festspielpräsident wird herbeigerufen. Gemäß der Aussage des Peymann-Teams verspricht er, die Notlichter auf seine Verantwortung ausschalten zu lassen. Im Protokollbuch wird’s vermerkt. [. . .] Man probt mit Hilfe einer Stafette von vier Personen, die im gegebenen Moment das Signal zur absoluten Verfinsterung treppabwärts zum Schaltkasten trägt. So geschehen auf der – nicht öffentlichen – Generalprobe vor nahezu hundert Zuschauern im Auditorium. Am Abend der Premiere bleiben wider alles Erwarten und ohne jede Vorwarnung die Notlichter eingeschaltet; Peymann, hinunterrasend, findet den Kasten versperrt. Angela Schmid verliert die Nerven, führt die vorgeschriebene Aktion nicht aus, sondern wirft sich vornüber auf den Tisch: ein mattes Klirren statt des geplanten großen Effektes.« Hierauf erklärt Peymann, »›man werde die nächsten Aufführungen nur spielen, wenn – gemäß der bereits erteilten Zusage – die Notbeleuchtung ausgeschaltet wird‹ [. . .]. Am Abend der ersten Reprise dann der Aufruhr. [. . .] Man bietet in letzter Minute einen Kompromiß an. Die Notlichter [. . .] sollen ›händisch‹ abgedeckt werden. Das hält Peymann, gewiß mit Recht, nicht für praktikabel. Andere Lösungen werden nicht angeboten. Ein Vorschlag des Autors, den Schluß ganz wegzulassen, kommt zu spät. Man hat das Publikum bereits nach Hause geschickt.« (Hilde Spiel: Schatten auf Salzburg. Fazit der Festspiele und das Ende einer Affäre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. September 1972) Th. B. telegrafiert daraufhin am 2. August Josef Kaut, dem Präsidenten der Salzburger Festspiele: »Eine Gesellschaft Die Zwei Minuten Finsternis Nicht Vertraegt Kommt Ohne Mein Schauspiel Aus Stop Mein Vertrauen In Regisseur und Darsteller Ist Hundertprozentig Stop. Sie Faellen Die Selbstverstaendlich Kompromisslose Entscheidung Fuer Kuenftige Auffuehrungen«. (Siehe das Faksimile des Telegramms in Thomas Bernhard und Salzburg, S. 221.)
2 Th. B. widmet das in der Folge geschriebene Theaterstück Die Jagdgesellschaft dem Schauspieler Bruno Ganz.
3 Th. B. reagiert mit dieser Bemerkung auf einen Hinweis von Rudolf Rach im Brief an Th. B. vom 21. April 1972 (die Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe in der Bibliothek Suhrkamp): »Auf Seite 22 tritt Frau Vargo auf und wieder ab. Auf Seite 32 sagt sie die Ouvertüre, und auf Seite 33 tritt sie erst wieder auf. Ist nun gemeint, daß sie die Ouvertüre hineinruft, also aus dem Off spricht? Oder soll sie noch einmal zwischendurch hereinkommen, um ein Kleidungsstück oder etwas anderes zu bringen?« Th. B. korrigiert diese Ungereimtheit in der Regieanweisung nicht.