[362; Anschrift: Ohlsdorf]
Frankfurt am Main
17. Februar 1978
Lieber Thomas Bernhard,
nun fahre ich für eine Woche in den Schnee, in die Gegend, die Sie kennen, wo der Geist Nietzsches noch herumspukt und wo ein gewisser T. B. meditative Spaziergänge machte.1
Ich erhoffe mir da eine neue Sammlung meiner Kräfte. Natürlich weiß ich, daß wir letztlich nur arbeitend unser Eigenes finden.
Ich habe sehr gern Ihre Nachrichten gehört und zur Kenntnis genommen, wie produktiv Sie sind.
Wir sehen uns bei der Premiere in Stuttgart und dann in Zürich, wo wir uns dann etwas absentieren werden, um Auge in Auge miteinander zu sprechen.2
Ich freue mich, daß Sie arbeiten können und daß Sie arbeitend glücklich sind.
Herzlich —
Ihr
[Siegfried Unseld]
1 S. U. ist vom 17. bis 28. Februar in der Schweiz, wo er, neben sechs Tagen Skifahren in St. Moritz, u. a. mit Wolfgang Hildesheimer, Max Frisch und Adolf Muschg zusammentrifft. Zum gemeinsamen Aufenthalt von Th. B. und S. U. 1975 in St. Moritz siehe Brief 308.
2 S. U. und Th. B. sehen sich weder bei den Robert-Walser-Tagen in Zürich noch bei der Uraufführung von Immanuel Kant in Stuttgart; beide Ereignisse finden am selben Tag, dem 15. April, statt. In seinem Reisebericht Zürich—Biel, 14.-16. April 1978 vermerkt S. U. über den Auftakt zu den Walser-Feierlichkeiten in Zürich: »Die Autoren sind eingetroffen, mit zwei Ausnahmen: Handke und Bernhard, Burgel Zeeh versucht ihn zu erreichen, und die Stadt wollte ihm einen Hubschrauber zur Verfügung stellen.« Statt dessen treffen sich die beiden am 26. April in Frankfurt; S. U. hält diese Begegnung in seiner Chronik fest:
»Burgel Zeeh [. . .] kommt mit zum Flughafen, wo wir gemeinsam Thomas Bernhard erwarten, der eigens zu diesem Gespräch aus Salzburg kommt. Sehr einläßliches Gespräch bis weit über Mitternacht. Wir tasten uns aneinander heran. Er übergibt mir das Manuskript ›Der Stimmenimitator‹. Er bat mich, drei Texte zu lesen: ›Hamsun‹, und dann vor allem: ›In Rom‹, eine Darstellung von Ingeborg Bachmann. Ich insistiere auf einer Änderung, Bachmann sei nicht nach der Verbrennung bewußtlos gewesen und nicht mehr aufgewacht. Er will es zunächst nicht streichen, streicht es dann doch.
Dann erzählt er mir von seinen Plänen: ein weiterer Erzählungsband [Die Billigesser], ein weiteres Stück [Die Milchkanne], und dann, im nächsten Herbst, der Roman ›Unruhe‹. Und dann pirschen wir uns an den entscheidenden Punkt heran: Ich sage ihm, daß ich Residenz-Editionen nicht mehr hinnehmen könnte. Dies rein aus psychischen Gründen. Er verspricht nichts, nur die zweijährige Pause, aber die Beziehung ist sehr herzlich; als ich dann gegen ein Uhr gehe, umarmt er mich. Das hat er noch nicht getan. Wir verabreden ein Treffen im Juli.«