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Ohlsdorf
22. 1. 66
Lieber Herr Dr. Unseld,
es gibt Perioden, da hängt man aufeinmal über einem fürchterlichen Abgrund in der Luft und man hat unendlich viel Zuschauer, die einen ununterbrochen Beifall klatschen und glitzern sehen und mit ihrer (perfiden) Bewunderung fast völlig gehörlos machen, aber keinen einzigen, der einen endlich ein festes Netz spannt, auf das man sich, buchstäblich in der letzten Minute hinunterfallen lassen kann, ohne mit Sicherheit eine komische, wenn auch bedauernswerte, so doch lächerliche Leiche unter den Menschen zu sein. Mit den 3000, um die ich ersucht und die Sie mir von einem Tag auf den andern haben überweisen lassen, haben Sie mir ein Netz gespannt.1 Für diesen neuen und rettenden Beweis einer (weil nicht ersten) ganz grossen Kraftprobe, danke ich Ihnen! Die Arbeit will ich jetzt, wo sie dem Ende zugeht, nicht überstürzen, aber ich bin mit Sicherheit dann fertig, wenn es, weil für das Herbstprogramm erforderlich, Zeit ist. Ich habe alle Ablenkungen in den jetzt unwichtigen Hintergrund gedrängt.
Ausser dem Roman (ich finde auch in den Nächten keinen Titel) habe ich zwei Vorschläge an Frau Botond gemacht, kürzere Prosa betreffend.2 In letzter Zeit habe ich mehrere Angebote für »Veröffentlichungen« in Zeitschriften bekommen, werde aber, wenn überhaupt, antworten, dass sich die Leute an den Verlag wenden sollen. Ich habe überhaupt keine Lust, etwas an Zeitschriften zu geben, es schaut nichts dabei heraus; man weiss ja, wie es in Schweinekoben ausschaut und was ein Schwein unter lauter Schweinen bedeutet. Auch graust es mich vor Anthologien, und ich habe die Beobachtung gemacht, dass es mich, wenn ich in einer drinnen war, geärgert, wenn ich in einer nicht drinnen war, gefreut habe. Ich glaube, dass es, je weniger ich mich an der literarischen Tombola beteilige, desto besser ist.3
Meine Vorstellung ist die, dass ich zu meinem eigenen Vergnügen und zu meiner eigenen Selbstsucht, Perversität usf. wie andere einer aufreibenden Sportart nachgehen, schreibe, und was fertig ist, bekommen Sie und können damit machen, was Sie wollen, vorausgesetzt, dass Sie nichts Abstossendes damit anfangen. Aber das glaube ich nicht. Da ich ausser dem Schreiben wenig andere Interessen habe, wird es ja doch zu etwas Brauchbarem führen. Ich möchte in diesem Zusammenhang wieder sagen, wie wichtig mir Frau Anneliese Botond ist.
Ob es klug ist, das Theaterstück (mit natürlich einem anderen Titel, wie ich sehe) wenn auch noch so gut überarbeitet, selbst, wenn es ein »meisterhaftes« werden würde, auf die Spitze, d. h. in diesem Jahr auf die Bühne zu treiben, glaube ich nicht. Ich werde das auch Herrn Braun schreiben, denn die kritischen Kräfte (Hilfskräfte) sollen sich ja auf den Roman konzentrieren. Wenn da aufeinmal aber mehrere Schiffe zur gleichen Zeit aus dem Hafen auslaufen . . . Im Übrigen, im Übrigen, im Übrigen usf., es würde kein Ende nehmen.
Der Heilige Ernst ist (wie der Heilige Ludwig), nur in der Komödie zu suchen, wenn überhaupt.
Ich denke an Sie während ich meine Arbeit verlassen und mich schon fertiggemacht habe für einen längeren Ausflug; jetzt sind die schönsten Tage.
Herzlich Ihr
Thomas Bernhard
1 Anneliese Botond hat Th. B. zu dem Mitte Dezember 1965 überwiesenen Betrag in einem Brief vom 11. Januar 1966 geschrieben: »Schreiben Sie, wenn Sie es noch nicht getan haben, an Unseld. Er hat wegen der 3000 kaum geknurrt. Er war grosszügig und verdient, dass Sie es ihm sagen.«
2 Anneliese Botond antwortet Th. B. auf diesen Vorschlag am 25. Januar 1966: »Sie wollen einen Band Erzählungen in der Edition Suhrkamp? Niemand ist entsetzt, alle sind einverstanden, Unseld, Busch, ich. Der Band könnte im Herbst erscheinen, vielleicht gleichzeitig mit dem Roman. Schicken Sie das Manuskript? [. . .] Und einen Band in der Insel-Bücherei wollen Sie auch machen? Wann? und was soll da hinein? Die IB ist nicht halb so günstig für Sie wie die Edition Suhrkamp. Wir werden uns überlegen, was da am besten zu tun ist, wenn wir wissen, was Sie alles in Ihrer Vorratskammer haben.«
3 Dennoch erscheinen von Th. B. 1966 in Anthologien und Zeitschriften: Politische Morgenandacht (in: Wort in der Zeit), Viktor Halbnarr. Ein Wintermärchen (in: Dichter erzählen Kindern) sowie drei Vorabdrucke aus dem 1967 publizierten Band Prosa: Jauregg (in: Literatur und Kritik), Die neuen Erzieher (in: Akzente) und Die Mütze (in: Protokolle).