[225; Anschrift: Ohlsdorf]
Frankfurt am Main
19. Februar1 1973
Lieber Thomas Bernhard,
mein erster Brief im neuen Jahr an Sie soll ein herzlicher Gruß sein!
Ich möchte die Hoffnung ausdrücken, daß wir die Pläne, die wir uns für dieses Jahr vorgenommen haben, auf einer guten, gelungenen Ebene ausführen können (nachdem wir doch die Finanzgebirge durchstiegen haben). Ich war in den letzten Tagen des Jahres und in der ersten Januarwoche sehr okkupiert mit den Problemen, die der Tod von Günter Eich aufwarf. Ich war auch kurz in Großgmain, wollte Sie aber nicht verständigen, weil meine Reise zu abrupt war und ich keinen vernünftigen Termin vorher mit Ihnen hätte vereinbaren können. Und ich möchte Sie ja auch nicht im Nebenhinein besuchen, sondern wirklich einmal zentral und eigens für Sie. Wir werden eine Feier für Eich hier in Frankfurt machen. Mit Ilse Aichinger wurden die Autoren benannt, die aus dem Werk Eichs lesen sollten; bei einem »südlicheren« Leseort hätten wir Sie bedrängt, mit von der Partie zu sein, aber Frankfurt schien uns zu weit.2 Außerdem hoffte ich, Sie vielleicht noch zu anderem Anlaß nach Frankfurt zu locken: zu unserer Brecht-Feier am 10. Februar.3
Doch ich kann mir vorstellen, daß Sie erst die Reaktion auf den Wiener »Boris« abwarten wollen. Wie sind Ihre Eindrücke von den Vorbereitungen?4
Sie wollten Claus Peymann in Wien treffen, um mit ihm über die »Jagdgesellschaft« zu sprechen. Bitte, informieren Sie uns, wenn sich Konkretes ergeben hat. Ich freue mich sehr auf dieses Stück, das die Theatersaison 1973 auf 74 zentral bestimmen soll.5
Schöne Grüße
Ihr
Dr. Siegfried Unseld
— nach Diktat verreist —
i. A.
Renate Steinsiek
1 »Februar« ist eine Verschreibung. Th. B. unterstreicht »Februar« mit einer Wellenlinie und setzt ein Fragezeichen darunter, daneben merkt er an: »Jänner!« Auf der Verlagskopie wird nachträglich handschriftlich »Februar« zu »Januar« korrigiert.
2 Günter Eich stirbt am 20. Dezember 1972 in einem Salzburger Krankenhaus. S. U. trifft Ilse Aichinger und den Sohn Clemens Eich an Günter Eichs letztem Wohnort in Großgmain. Bei der Veranstaltung »Günter Eich zu ehren«, die am 1. Februar 1973 – dem 66. Geburtstag des Autors – im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main stattfindet, lesen u. a.: Peter Bichsel, Heinrich Böll, Günter Grass, Peter Handke, Wolfgang Hildesheimer, Walter Höllerer, Peter Huchel, Uwe Johnson.
3 Zum 75. Geburtstag von Bertolt Brecht am 10. Februar 1972 veranstaltet der Suhrkamp Verlag in Kooperation mit dem Schauspiel Frankfurt einen Brecht-Abend, an dem u. a. Lotte Lenya, Hanne Hiob, Anja Silja, Peter Roggisch, Milva, Ernst Schröder und Gisela May auftreten. Th. B. ist nicht anwesend.
4 Die österreichische Erstaufführung von Ein Fest für Boris findet am Wiener Akademietheater statt; siehe Anm. 2 zu Brief 182.
5 Am unteren linken Briefrand findet sich handschriftlich die Nummer »060611«, wobei es sich um die damalige Telefonvorwahl für die Bundesrepublik Deutschland (06) bzw. für Frankfurt am Main (0611) handelt.