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Ohlsdorf

12. 4. 73

Lieber Herr Doktor Unseld,

am Montag habe ich in den Münchner Kammerspielen die hundsgemeine Hinschlachtung eines meiner Theaterstücke erleben müssen, gerade den brutalen stumpfsinnigen Mord an jener Arbeit, die sich »Der Ignorant und der Wahnsinnige« betitelt und zu den schwierigsten Stücken auf dem Theater überhaupt zu zählen ist; und gerade dieses Kunststück hat der Verlag völlig bedenkenlos einer Bühne zur Aufführung gegeben, die niemals die Voraussetzungen hat, eines meiner Stücke auch nur akzeptabel herauszubringen, einem Dramaturgenteam, das aus Idioten, tatsächlich aus ordinären Provinzidioten besteht und einer Schauspielergarnitur, die in Sankt Pölten oder in der Kurstadt Baden bei Wien sich austoben kann an einer LehÄroperette, nicht aber und niemals auf eine meiner Arbeiten losgelassen werden hätte dürfen.¹ Einem Regisseur hat der Verlag mein Stück »anvertraut«, der noch niemals in seinem Leben vorher eine Regie gemacht hat, wo es für meine Theaterstücke die besten, diese Handvoll erstklassiger Regisseure schon schwer haben und sich wahrscheinlich gut überlegen werden, ob sie sich mit meiner Arbeit beschäftigen. Der Vorhang ist aufgegangen und die darauf folgende Katastrophe ist mir klar gewesen. So müsste es, wäre es möglich gewesen, Beethoven empfunden haben, wäre er unversehens in die Aufführung seiner Neunten oder Siebten in den Wiener Musikverein hineingeraten, in welchem eine unterbesetzte Polizeimusikkapelle spielt. Die Münchner Vorstellung hatte nicht einmal den Rang einer Maturaaufführung und wäre es nicht gegen das betrogene und zwar hundsgemein betrogene Publikum gewesen, wäre ich auf die Bühne und hätte diese niederträchtigen Lemuren von grössenwahnsinnigen Schauspielern eigenhändig umgebracht, nicht ohne vorher dem sogenannten Regisseur tödliche Ohrfeigen versetzt zu haben. Dieses deutsche Theater, lieber Doktor Unseld, nimmt doch das Maul bis zur Ungeheuerlichkeit voll, während es doch nicht das geringste Hirn hat. Für mich hatte diese Aufführung, nach welcher ich wie vom Stumpfsinn getroffen nachhause gefahren bin, aber einen entscheidenden Vorteil: mit grösstem Recht verlange ich ab sofort den Abbruch der Praktik, mit welcher der Verlag meine Theaterarbeit behandelt. Und das heisst konsequent folgendes: der Verlag hat keiner einzigen, gleich welcher Bühne ab sofort mehr das Recht zur Aufführung eines meiner Stücke zu geben. Es haben ab sofort überhaupt keine Verhandlungen mehr, meine Stücke betreffend, mit Theatern oder mit Theaterleuten [[mehr]] stattzufinden. Bis wir beide, wenn überhaupt noch möglich, eine neue und für mich mögliche Basis gefunden haben, ruht meine Theaterarbeit im Suhrkampverlag. Und diese Forderung meinerseits bitte ich wörtlich zu nehmen, sie ist mir vollkommen ernst und ich verwahre mich schon jetzt gegen eine andere als die wörtliche Auslegung dieser Forderung. Die Begründung ist, dass der Verlag völlig bedenkenlos, wie ich annehmen muss nur aus finanziellen Gründen, gleich welchen Theaterunternehmungen meine Arbeit zur Ausschlachtung überlässt. Diese Münchner Aufführung ist ein Beweis. Hier hat der Verlag einem Anfänger als vollkommenem Dilettanten mein Stück überlassen, einem miserablen Theater und einem provinziellen Team, das nicht einen einzigen meiner Sätze verstehen kann. Er hat sich um diese Aufführung überhaupt nicht gekümmert und Schuld an dieser Katastrophe. Diese Münchner Aufführung ist für mich Signal für den Schlusspunkt unter das Kapitel, das Sie von Doktor Rach schreiben lassen, ein Mann, der nicht das geringste Verständnis für meine Arbeit hat, ja nicht haben kann, weil er es nicht verstehen kann und nicht verstehen will. Und ich überlasse nicht einen Augenblick länger meine Arbeit einem solchen Mann, dem meine Arbeit gleichgültig ist und der weiss was im Kopf hat, nur nicht das geringste geistige oder künstlerische Verhältnis für mein Theater. Hier könnte ich tatsächlich Hunderte von Beweisen für die Interesselosigkeit und die Unfähigkeit des Dr. Rach anführen, wenn das nicht zu weit gehen und schliesslich zu keinem Nutzen führen würde. Aber kurz gesagt, ist mir meine Arbeit zu wichtig in meinem ganzen Leben, als dass ich sie, wenn sie fertig ist, an eine Fabrik schicke, in welcher sie vervielfältigt und an alle verschleudert wird. Das hat ein Ende. Dies ist nicht die erste unappetitliche Katastrophe mit meinen Stücken, ich erinnere nur an Zürich, an Krefeld, an den »Boris« in München.² Und dabei bin ich bei einer Bemerkung in Ihrem letzten Brief, die im Grunde eine Verleumdung meinerseits darstellt, in dem Sie schreiben, ich hätte, meine Stücke betreffend, nur die Tausender im Kopf, nicht aber, dass von meiner Arbeit, »von einem meiner Wörter« ein Mensch »getroffen« werden könne. Hier liegt ein entscheidender Irrtum vor, der nur dadurch entstehen hat können, dass Sie meinen Brief an dieser Stelle nicht deutlich genug oder absichtlich falsch gelesen haben. Ich schrieb, kleine Theater bedeuteten kleine Schauspieler, und das ganze Theater empfinde ich als heillosen Dilettantismus, deshalb wehre ich mich, meine Stücke überall aufführen zu lassen. Erstens, muss ich sagen, ist es mir nicht nur vollkommen gleich, sondern nichts als widerlich, wenn irgendein Herr Maier oder eine Hubersche Hausfrau in Flensburg oder in Ingolstadt oder in Düsseldorf oder München oder Hamburg (lauter Provinzen, lieber Doktor Unseld) von einem meiner Wörter getroffen werden sollte, denn das hiesse ja, nichts von meiner Arbeit, aber auch schon gar nichts von meiner Arbeit kapieren. Nicht getroffen soll irgendein Mensch von meiner Arbeit sein, sondern meine Arbeit soll völlig unbillig als Kunstwerk erkannt werden. Was wohl nur an einer erstklassigen Bühne mit ganz und gar erstklassigen Leuten möglich ist. Darüber zu diskutieren hiesse Butter aus Erdäpfeln machen wollen. Auf diese Beschäftigung haben sich aber leider die Deutschen allzusehr spezialisiert. Das muss man sagen.

Aber zurück zum Kernpunkt des Briefes: Dr. Rach ist nicht mein Mann und der Verlag, wie er sich mir gegenüber darstellt, ist nicht mein Verlag. Aber um das in seiner ganzen Deutlichkeit sagen zu können, müssten wir das alles unter vier Augen besprechen und zwar ohne Nebel. Wie es jetzt ausschaut, ist mein Verhältnis zum Verlag wohl zertrümmert. Dazu haben Sie selbst mit Ihrem fortgesetzten Misstrauen mir gegenüber, was ein Wahnsinn gegenüber den sichtbaren Tatsachen (den finanziellen meine ich) ist und mit Ihrer, woraus resultierenden? Kleinlichkeit, auch Ihren Anteil. Gestatten Sie mir diese Worte, denn sonst kommen wir überhaupt nicht mehr zusammen. Dazu nur ein Beispiel: obwohl Ihnen das Geld aus Wien (und wenn ich allein Berlin mit mindestens dreissig Aufführungen im Schillertheater,³ auch die »Jagdgesellschaft« betreffend) sicher ist, haben Sie mich vier Monate im wörtlichsten Sinne vor Ihrer Frankfurter Haustür um die Vorauszahlung dieses Betrages betteln lassen, obwohl ich Sie nicht im Unklaren gelassen habe über die Dringlichkeit, mit welcher ich hier verschiedenen Pressionen ausgesetzt gewesen bin.⁴ Und mit diesem mir dann doch mit Ach und Krach überwiesenen Betrag (im Grunde ja schon mein Geld, lieber Doktor Unseld), vermengten Sie dann immer wieder die Rechte auf das Herausbringen der »Korrektur«, obwohl Ihre Aussenstände, mich betreffend, allein durch das Theater gedeckt sind. Andauernd setzten Sie Fussangeln in dem Gestrüpp, durch welches mit blinden Augen gehend Sie mich vermuten. Das ist aber nicht so. Mein Verstand ist klar und meine Empfindungen sind die natürlichen. Da Sie also finanziell auf keinen Fall Schaden erleiden mit mir, muss ich nocheinmal ein Resümee machen meiner Forderung: Keinerlei Verhandlungen mit gleich welchem Theater, meine gesamte Theaterarbeit betreffend. Davon ausgenommen sind nur das Wiener Burgtheater, mit welchem ein Vertrag besteht und mit welchem ich selbst am besten verhandle und das Berliner Schillertheater, mit welchem noch für die »Jagdgesellschaft« abzuschliessen ist und wo sich die Verhältnisse ebenso darstellen wie in Wien, denn auch mit dem Schillertheater bin ich selbst der beste Verhandlungspartner. Alles andere ist gestoppt. Und ich bitte Sie um die strikte Einhaltung meiner Forderung. Was die Prosa betrifft, so mache ich im Jahr 73 keine Veröffentlichung, auch »Erinnern« nicht.

Lieber Dr. Unseld, für meine fortgesetzte, folgerichtige Arbeit, brauche ich den Rücken frei und solange ich nicht die Sicherheit habe, dass mit meiner Arbeit geschieht, was ich will, und nur andauernd alles gegen meine Intentionen gehandhabt wird, muss ich unser Verlagsverhältnis ruhen lassen. Was der Verlag macht, und schon längere Zeit, und, wie mir scheint, seit Dr. Rachs Arbeit, ist gegen mich und schadet mir. Das will ich aber nicht, denn es deprimiert mich nur und erzeugt eine Unruhe in meinem Kopf, die ich mir nicht leisten will.

Das alles, wenn wir also vorläufig alles ruhen lassen, ist unberührt von den Finanzen. Denn finanziell sind Sie absolut gedeckt.

Ich könnte noch viel schreiben, aber es nähme doch die Ausmasse einer generellen Anklage an. Das verweigere ich mir aber. Und es nützt nichts. Mir wäre es recht, wenn wir Ende Juni zu einem Gespräch zusammenkommen können. An einem neutralen Ort hier im Umkreis. Vielleicht haben wir noch die Möglichkeit neu anzufangen. Das Alte ist tot und ich will damit nichts mehr zu tun haben.

Dieser Brief fällt mir natürlich nicht leicht, aber er musste geschrieben werden. Er bezeichnet einen Endpunkt. Den Anfang müssten Sie machen.

Herzlich Ihr

Thomas Bernhard

P. S.: »Wir werden uns an meinen Brief vom 5. Dezember und an Ihre Antwort vom 15. 12. halten. Ich meine, es wird dann keine Missverständnisse geben, und wenn es solche gibt, so tragen wir diese männlich aus.« Siegfried Unseld am 21. 12. 72.⁵