[33; Anschrift: 〈Ohlsdorf〉]
Frankfurt am Main
8. Mai 1967
Lieber Herr Bernhard,
nur eine Zeile: Lassen Sie sich von den Kritiken nicht beirren, so wenig wie ich mir dies gestatte. Daß es Einwände gegenüber der »Verstörung« geben wird, war uns beiden ja klar, wenn ich auch das Ausmaß der Ablehnung von Reich-Ranicki und Eisenreich nicht ganz verständlich finde. Aber lassen wir den Kritikern ihren Übermut. Die Hauptsache ist, daß Sie sich davon nicht beeindrucken lassen. |Mein Glaube an Sie als Autor ist unerschüttert.|1
Schönste Grüße
Ihr
Siegfried Unseld
1 In Marcel Reich-Ranickis Besprechung von Verstörung (Konfessionen eines Besessenen, in: Die Zeit, 28. April 1967) heißt es etwa: »Bernhard ist, ob er es will oder nicht, ein österreichischer Heimatdichter, den freilich weniger Liebe oder Innerlichkeit über das Leben in Tirol oder in den Tälern der Steiermark schreiben lassen als Wut und Ekel, wenn nicht gar Haß. [. . .] Seine Einseitigkeit mutet bald kühn und bald simpel an. Sie ermöglicht zwar die Härte und die Besonderheit dieser Epik, aber leider setzt sie ihr auch enge Grenzen und bewirkt nicht selten ihre Monotonie. [. . .] Das neue Buch, der Roman ›Verstörung‹, läßt dies mit fast erschreckender Deutlichkeit erkennen.« Herbert Eisenreichs Rezension von Verstörung (Irrsinn im Alpenland, in: Der Spiegel, 1. Mai 1967, S. 164f.) enthält u. a. die Sätze: »Mit Thomas Bernhard ist inmitten der dezidiert urbanen Literatur wieder einmal der Urwald ausgebrochen. [. . .] Kurzum: Keine Handlung, keine Distanz, kein Kontrapunkt – das sind die drei Aspekte des einen Sachverhalts: keine Wahrheit. Eines Sachverhalts, der zwar der ganzen gegenstandslosen (und deshalb sich, irrtümlich, für modern haltenden) Literatur abzulesen ist, aber wirklich glaubhaft wird erst dort, wo ein Meister sich auf den Holzweg begibt – wie eben Thomas Bernhard in seiner ›Verstörung‹.«