[143; Anschrift: Ohlsdorf]
Frankfurt am Main
6. Januar 1971
Lieber Thomas Bernhard,
mit getrennter Post schicke ich Ihnen die Programme der Verlage Insel und Suhrkamp für das 1. Halbjahr 1971. Ich hoffe, Sie erhalten einen guten Eindruck von unserer kommenden Verlagsarbeit.
Für mich sind Ihre beiden Bücher »Midland in Stilfs« und »Atzbach« wichtig. Sie wissen, die Bibliothek Suhrkamp scheint für mich das beste Forum für Ihre Arbeiten zu sein. |In der edition s.| gaben wir Ihnen die Position des Jubiläums-Bandes 500. Bitte, sehen Sie darin abermals, wie sehr wir uns hier im Hause um Ihre Arbeiten bemühen.1
Ich hatte in den letzten Tagen des Jahres verschiedene Gespräche mit dem Hamburger Schauspielhaus. Sie sind ja wahrscheinlich orientiert über die Entwicklung dort. Ich habe erreicht, daß die neue Leitung noch einmal versuchen wird, »Ein Fest für Boris« aufzunehmen. Das hängt jetzt an Schauspielerdispositionen.2
Am 25. Dezember führte ich ein Gespräch mit Harry Buckwitz. Die Situation für »Ein Fest für Boris«: Frau Bothe hat ihm eine definitive Option gegeben. Freilich, eine Option, die man so auslegen kann, daß sie für das normale Programm und nicht für das Nachtprogramm gedacht war. Leider hatte ich keine Möglichkeit mehr, ihm dieses Stück wegzunehmen und es dem Theater am Hechtplatz zu geben, und zwar aus einem doppelten Grund. Einmal hat er »Ein Fest für Boris« schon angekündigt, und es wäre ungut, wenn das Zürcher Schauspielhaus es ankündigte und wenn es dann woanders erschiene. Zum zweiten aber: Agnes Fink, eine ideale Schauspielerin, lernt bereits die Rolle und bereitet sich so auf die Aufführung vor! Ich meine, eine bessere Schauspielerin können wir in Zürich gar nicht bekommen. Von dort her mußte ich dann doch Buckwitz die definitive Zusage lassen.3 Ich handelte jedoch heraus, daß er bei einem Erfolg der Aufführung im »Nachtprogramm« auch normale Aufführungen bringen wird. Im übrigen weiß ich, nicht nur von ihm, sondern auch von meinen Zürcher Freunden, daß gerade die Nachtaufführung des Zürcher Schauspielhauses bei jungen Leuten sehr beliebt ist. Diese Aufführungen sind immer total ausverkauft. Es handelt sich hier natürlich um sehr billige Preise, aber immerhin auch um tausend Besucher pro Abend. Buckwitz möchte Sie dringlich zu einer Lesung einladen. Sind Sie damit einverstanden? Bitte schreiben Sie mir doch eine Zeile.4
Ich freue mich, lieber Thomas Bernhard, daß wir gleich im neuen Jahr wieder Gelegenheit für ein produktives Zusammenwirken haben. Produktivität ist und bleibt das Wichtigste.
Herzliche Grüße
Ihr
Siegfried Unseld
P. S.: In den Theaterverlag ist jetzt Herr Dr. Rach eingetreten. Er arbeitet sich in die Leitung des Verlages ein, die Sache sieht sehr hoffnungsvoll aus. Frau Bothe wollte mit Herrn Dr. Rach nicht zusammenarbeiten und schied deshalb zum 31. 12. 1970 aus. Die Arbeiten laufen aber normal auch auf der administrativen Ebene weiter. Mit Hamburg sind wir in ständiger Telefonverbindung.
1 Midland in Stilfs erscheint Mitte März 1971 als Band 272 der Bibliothek Suhrkamp. Das Umbruch-Exemplar der Erzählungen wird Th. B., wie einem Schreiben von Burgel Geisler an den Autor vom 21. Januar 1971 zu entnehmen ist, am selben Tag mit der Bitte um möglichst rasche Korrektur zugesendet.
Atzbach ist als Jubiläums-Band 500 der edition suhrkamp für den Oktober 1971 geplant, wird aber unter diesem Titel nie realisiert (siehe Anm. 1 zu Brief 215). Im Nachlaß findet sich der Name »Atzbach« in verschiedenen Konvoluten. (Atzbach ist ein Ort im oberösterreichischen Bezirk Vöcklabruck, unweit von Wolfsegg bzw. Ottnang.) Neben dem Typoskript des Vorschautextes (ergänzt durch handschriftliche Notizen, z. B.: »Als ich meine Arbeit über Händel . . . etc. Beginn Atzbach«, NLTB, SL 2.9 / 2) liegt im Thomas-Bernhard-Archiv u. a. ein titelloses, fünf Blätter umfassendes Typoskriptfragment vor (NLTB, SL 1.16 / 4 / 2), das dem Vorschautext entspricht, insofern diese Seiten eine Abfolge von Vorschriften enthalten. Ort der Handlung ist Atzbach, bei dem es sich offensichtlich um ein Gefangenenhaus handelt. Daneben hat sich ein an die 20 Blatt umfassender »Atzbach-Komplex« in einem insgesamt 88 Blatt umfassenden Konvolut erhalten, das eine Vorstufe von Gehen darstellt. Th. B. hat aber weder diesen Erzählstrang, in dem u. a. Briefe an einen Professor Justin in Kapstadt eine wichtige Rolle spielen sollten, in die Endversion von Gehen aufgenommen noch eine eigene Atzbach-Erzählung daraus gemacht. Der Name allerdings taucht im Werk von Th. B. später noch einmal auf, im Theatermacher, der ursprünglich in Atzbach spielen sollte (vgl. NLTB, W 66 / 2, Bl. 2), woraus Utzbach wird.2 Ein Fest für Boris wird im Jahr 1971 in Hamburg nicht mehr gespielt.
3 Die Schweizer Erstaufführung von Ein Fest für Boris ist zunächst für Juni 1971 vorgesehen, findet wegen einer Erkrankung von Agnes Fink, die die Johanna spielen soll, allerdings erst am 28. November 1971 im Nachtstudio des Schauspielhauses Zürich statt. Siehe auch Brief 178.
4 Am Tag der Schweizer Erstaufführung von Ein Fest für Boris, am 28. November 1971, liest Th. B. in einer Matinee die beiden Erzählungen Zwei Erzieher und Attaché an der französischen Botschaft aus Prosa.