[372; Anschrift: Ohlsdorf]

Frankfurt am Main

1. Dezember 1978

Lieber Thomas Bernhard,

ich habe Ihren Brief vom 29. November erhalten, vielen Dank. Ihre Reaktion verstehe ich, auch daß Sie hierin eine Bestätigung Ihrer Schriften finden. Was Sie erfahren haben, ist in der Tat deutsche Wirklichkeit, und sie ist – wie Sie sagen – brutal und gemein. Aber, lieber Thomas Bernhard, dies ist nicht die gesamte deutsche Wirklichkeit, es ist ein minimaler Ausschnitt, ein Stein, der freilich zu diesem Mosaik gehört. Es gibt aber andere Steine, und die sollte man auch sehen.

Was Kroetz betrifft, so hat er eine Art bayerischen Humors, die wirklich nicht jedem einleuchtet. Es kann durchaus stimmen, daß er sagte, er habe »seinen Leuten« nicht erlaubt, Ihre Vorlesung kaputtzumachen. Wenn Sie sich erinnern, die erste Dame, die da las, sie gehörte dem Kroetzschen Spartakus an. Die anderen »Redner« aber waren rivalisierende linke Gruppen, insbesondere der Kommunistische Bund Westdeutschland, der mit dem Spartakusbund in Feindschaft steht. Wir sollten in diesem Punkt also doch differenzieren.

Und noch etwas: Sie wissen, wie sehr ich den Vorgang verurteilte und ihn als beschämend bewertete, und ich habe daran auch den Agierenden gegenüber keinen Zweifel gelassen, auch dies haben Sie gehört, aber der Angriff ging nicht gegen Sie persönlich, er hätte jeden betroffen, der an diesem Abend gelesen hätte – ob Koeppen – Struck — Frisch oder Lars Gustafsson. Diese Leute waren zum Zerstören entschlossen. Das macht freilich das Ganze nicht besser. Für mich war es selbstverständlich, an Ihrer Seite zu sein, und Sie sollten mich auch weiterhin an Ihrer Seite wissen.

Herzliche Grüße

Ihr

[Dr. Siegfried Unseld]