[338; Anschrift: Ohlsdorf]
Frankfurt am Main
3. Mai 1976
Lieber Thomas Bernhard,
schönen Dank für Ihren Brief vom 27. April 1976. Ich freue mich sehr, daß Sie ein gutes Gespräch mit Lotschak in Wien hatten. Hoffen wir auf den 23. Mai. Ich werde selbstverständlich dort sein.1
Am 10. werden wir uns also treffen. Ich fliege von Zürich nach Salzburg und treffe um 13.35 Uhr am Flughafen ein. Holen Sie mich dort ab? Wenn nicht, so halte ich mich im Österreichischen Hof auf, wo ich Sie eine Stunde nach meiner Ankunft erwarte. Ich werde am Spätnachmittag via München nach Frankfurt zurückfahren.
Herzliche Grüße, und auf
ein gutes Wiedersehen hoffend,2
Ihr
[gez. Dr. Siegfried Unseld]
— nach Diktat verreist —
i. A.
Die Korrekturfahnen sind pünktlich eingetroffen. VIELEN DANK!
1 Die Berühmten wird schließlich am 8. Juni 1976 im Rahmen der Wiener Festwochen unter der Regie von Peter Lotschak im Theater an der Wien uraufgeführt. Es spielen u. a. Johanna Matz, Bibiana Zeller, Horst Christian Beckmann, Wolfgang Gasser und Rudolf Wessely. S. U. notiert in seinem Reisebericht Wien, 7.-9. Juni 1976:
»Es ist schwer, nicht einen Roman zu schreiben.
Durch einen Zufall traf ich mitternächtlich Thomas Bernhard, den Regisseur Peter Lotschak, Claus Peymann, Frau Maleta, einige Freunde Bernhards. Die Runde schien vergnüglich, Bernhard hatte die Proben gesehen, war einverstanden, der Regisseur war optimistisch; das ist immer ein sehr schlechtes Vorzeichen für eine Uraufführung.
Unser Problem bestand darin, daß der Intendant der Wiener Festwochen sich trotz aller Reklamationen, Telegramme und Drohungen nicht bereit erklärt hatte, den Vertrag zu unterzeichnen. Der Vertrag war, man muß es gestehen, ziemlich hart: Uraufführung und ein paar weitere Aufführungstermine, dann Schluß und eine klare Zustimmungsvergabe zum Regisseur und zur Besetzung der Hauptrollen. Am Morgen versuchte ich, den Intendanten der Wiener Festwochen, Herrn Baumgartner, anzurufen, es meldete sich nur sein Sekretariat, wann Herr Baumgartner zu erreichen sei, war unbestimmt. Ich versuchte es noch einmal um 10 Uhr, wieder mit unklarem Erfolg. Um 10.30 h begann die Generalprobe; ich rief kurz vorher noch einmal im Büro des Intendanten an, er war nicht anwesend. So gab ich die Alternative, entweder würde ich aus der Generalprobe heraus zu einem Gespräch gerufen, oder ich würde mich um 15.00 h im Büro des Intendanten einfinden, um den Vertrag zu unterzeichnen; wäre der Intendant nicht da und würde der Vertrag nicht unterzeichnet, so würde wahrscheinlich eine Stunde später eine Verfügung des Suhrkamp Verlages die Aufführung am Abend verbieten.
Ich war in der Generalprobe, zu der die Besucher sehr, sehr sorgsam ausgewählt wurden, wer hereingewischt war, wurde wieder nach außen verwiesen, und es begann das Stück mit großen Beleuchtungsfehlern, der Anfang mußte mehrmals wiederholt werden; dann lief das erste Vorspiel und die erste Szene ab, dann wieder eine große Beleuchtungs- und Kooperationspanne, weiter ging es schließlich nach Pausen, und der Schluß verkrachte völlig.
Ich habe vorausgegriffen: Mittendrin erreichte mich ein Bote, der mich zum Zimmer des Intendanten bat. [. . .] Ich konnte den Abschluß und die Unterzeichnung des Vertrages Thomas Bernhard während der Generalprobe melden.
Diese Generalprobe war für mich ein Signal. Der erste Anfang klappte nicht, in der Mitte war eine große Schwierigkeit, die Aufführung mußte unterbrochen werden, und am Schluß brach eigentlich das Ganze zusammen. Sehr merkwürdig die Reaktion: Peymann hielt die Aufführung für möglich, Bernhard war sehr froh. Mit ihm ging ich Mittagessen. Er bezeichnete unser Treffen in Salzburg und Maria Plain als einzigartig, großartig, als er neulich in Frankfurt gewesen war, wollte er sich nicht melden, um diese Einzigartigkeit nicht zu stören. Im übrigen traf er anschließend noch für eine Stunde Minetti, dann fuhr er, während in Wien die Uraufführung ablief, nach Ohlsdorf.
Dieser Abend des 8. Juni in Wien wird irgendwie denkwürdig bleiben. Das Stück Bernhards ist im Grunde genommen im ersten Drittel entschieden; jedermann weiß, es gibt keine aufregenden Wendungen. In der Tat schien dieses erste Drittel eigentlich sehr geglückt, und man hätte gehofft, daß die Dramaturgie ein Einsehen hätte. Doch diese Dramaturgie war im Stück nicht enthalten. Gegen wen wandte man sich, wer waren die Gegner, wer waren die Helfer? Und bei der Aufführung selber war der Schluß vollkommen unverständlich: während im Text die ›Berühmten‹ Tiermasken aufgesetzt haben, ihr gesellschaftliches Palaver ad absurdum steigerten, und das heißt, nur noch in Tiersprachen reden sollten, und dann in einer Sekundenpause der Hahn sein Kikeriki des Verrats krähte – all dies war nicht drin, man verstand es nicht. Der Regisseur Lotschak hatte im Grunde genommen keine Vorstellung von der Poetik des Textes, von den poetischen Dimensionen, und das Ganze wurde banal, ein Cabaret, und zwar ein schlechtes. Gut, die Kritiken werden gemischt sein, meine Prognose ist, daß die deutschen Kritiker das Stück interessant, die Aufführung ablehnend finden.
Ich selber bin der Meinung, daß das Stück unter seinem Wert angeboten wurde. Daraus kann man wirklich etwas machen!
Ich hatte noch verschiedene andere Probleme: Zwar drängte ich auf Unterschrift des Vertrages mit den Wiener Festwochen, doch wir selber hatten noch keinen Vertrag mit Bernhard; Bernhard unterschrieb dann auch noch den Autorenvertrag für ›Die Berühmten‹ zwischen Suhrkamp Zürich und ihm innerhalb von Sekunden!«
Die Uraufführung von Die Berühmten wird von den Kritikern mehr als zurückhaltend aufgenommen; beispielhaft für die Reaktionen ist Paul Blahas Feststellung in der Weltwoche: »›Die Berühmten‹, Thomas Bernhards Kunstbetriebsbeschimpfung, ist ganz bestimmt kein Verrat an der Kunst. ›Die Berühmten‹ sind nur ein exzeptionell schlechtes Stück. ›Die Berühmten‹ sind der schlechteste Bernhard, den wir je hatten.« Siehe auch den Kommentar zu Die Berühmten in Th. B.: Werke 16, S. 390-405.2 Über seinen Aufenthalt in Salzburg schreibt S. U. in der Chronik unter dem Titel Begegnung mit Thomas Bernhard in Salzburg am 10. Mai 1976 einen dreiseitigen Bericht:
»Das Flugzeug aus Zürich kam pünktlich am Salzburger Flughafen an. Bernhard erwartete mich. Wir gingen dann in das Airport-Restaurant zum Mittagessen.
Die üblichen Höflichkeiten. Frage nach der Tante, Frage nach Frau Zeeh. Ich las ihm aus der ›Presse‹, Wien, einen Auszug aus einem Gespräch vor, das Bruno Kreisky mit Schülern geführt hatte. ›Welche Weltgeltung hat Österreich heute?‹ — wollte ein Schüler wissen. Und Kreisky ›legt los‹. Erste Erwähnung: der UNO-Generalsekretär [Kurt Waldheim] und ein Kommandant auf den Golanhöhen [Generalmajor Hannes Philipp]. Dann kommt als zweites: ›Viele der größten Nachwuchsdichter sind Österreicher.‹ Da ist Kreisky doch etwas Interessantes entschlüpft.
Ich merke gut, wie er nervös ist und auf das drängt, was er in seinem Brief an mich [siehe Brief 337] geschrieben hat [. . .].
Er sagte: ›Wollen wir mit dem Negativen oder dem Positiven anfangen?‹ Ich wollte das Negative, doch als er das, was ich befürchtet hatte, begann, nämlich die Tatsache, daß er Schaffler wieder ein kleines Buch versprochen habe, unterbrach ich und bat ihn, dies zu verschieben. Dann sagte er ›Gut, sprechen wir über Geld.‹ Dazu war ich nun sehr bereit.
Wir hatten ja eine Verabredung schon vor Jahren getroffen, wonach diverse Zahlungen an ihn, immerhin hohe sechsstellige Summen, nicht jeweils einzeln verrechnet werden, sondern wir wollten am 31. 12. 1975 ›Bilanz‹ ziehen. Haben wir ihm mehr gezahlt, so verfällt der Betrag, haben wir ihm weniger gezahlt, hat er also eine Gutschrift, so erhält er diese. Ich bat ihn, zu schätzen, wie die Situation sei. Er wußte es nicht. Dann war er überrascht, daß ich eine klar gegliederte, auf einer Seite übersichtliche Abrechnung gemacht hatte. Er drehte sich jedoch sofort herum und sagte: Wie auch immer die Abrechnung sei, er wünsche sich, daß ich ihm noch einmal DM 40.000.— zahlen sollte. Ich hörte mir dies gelassen an und bat ihn nun doch, die Abrechnung zu studieren. Er war sehr überrascht über das gute Ergebnis, Guthaben in Frankfurt ca. DM 50.000.—, Guthaben in Zürich ca. DM 50.000.— – er war begeistert, fand das ›ideal‹ und war ›sehr glücklich‹. Dann kam der große Überraschungszug: ich schlug ihm vor, die Hälfte dieses Guthabens – also DM 50.000.— – gegen das Darlehen zu verrechnen. ›Und die andere Hälfte?‹ fragte er. Da öffnete ich meinen Koffer und übergab ihm bar sFr. 50.000.—. Das hatte er nun doch nicht erwartet!
Er war sichtlich aufgeräumt, und in dieser Stimmung wollte ich mit ihm ja auch noch einmal über seine Absicht sprechen, ein neues Buch Schaffler zu geben. Dies erklärte er mir so:
Ich hätte ihn in Wien in einer schwierigen Situation nicht nur nicht unterstützt, sondern im Stich gelassen. Ich hätte ihn kritisiert wegen seines Offenen Briefes an Canetti. Ich hätte immer wieder gesagt, daß dieser Brief ihm Schaden zufüge, und hätte mich nie darüber geäußert, welchen Schaden Canetti ihm mit seiner Rede zugefügt habe. [Die Zeit druckt am 6. Februar 1976 die Rede von Elias Canetti anläßlich der Entgegennahme des Ehrendoktors der Universität München unter dem Titel Der Beruf des Dichters, in der er unter eindeutigem Bezug auf Th. B. als »Jemand, der schreibt« (so dessen Selbstbezeichnung in Drei Tage, siehe Anm. 1 zu Brief 115), ausführt: »[. . .] aber auch andere [. . .], die bittere und sehr begabte Bücher verfaßten, brachten es ›als Jemand, der schreibt‹, sehr bald zu Ansehen und taten nun, was frühere Dichter zu tun pflegten: Statt zu verstummen, schrieben sie dasselbe Buch immer wieder. So verbesserungsunfähig und todeswürdig die Menschheit ihnen erschien, eine Funktion war ihr geblieben: ihnen zu applaudieren.« Am 27. Februar veröffentlicht Die Zeit einen Brief von Th. B., in der Canetti als »Aphorismusagent«, »Schmalkant« und »Kleinschopenhauer« apostrophiert wird.] Er hätte vermißt, daß ich ihn in Schutz nehme. Am nächsten Morgen hätte er Schaffler angerufen und hätte ihm gesagt, daß er das Buch [Der Keller] haben könne. Natürlich ohne jede Vorauszahlung und ganz normal 10%, wie ja auch ›Die Ursache‹. Es sei ja ein Neben-Werk, eine Fortführung der ›Ursache‹, eine Salzburger Geschichte, eher lokal undsoweiter. Ich blieb bei diesem Punkt und blieb hartnäckig, doch auch er sagte, er hätte nun einmal Schaffler das Versprechen gegeben. Dann wiederum fragte er, eher kleinlaut: ›Wollen Sie mich nun so entlassen wie Barbara Frischmuth?‹ Langes Schweigen. In diesem Zusammenhang fiel dann von seiner Seite aus, daß man gegen den Vater protestieren müsse, um zu überleben.
[. . .] Thomas Bernhard nahm immer wieder den Band von Max Frisch zur Hand, die Ausgabe gefiel ihm vom Äußeren wie vom Inneren her, und sehr beeindruckt war er von der Widmung, die mir Max Frisch in diesen Band geschrieben hatte. [Die Widmung von Max Frisch im ersten Band seiner Gesammelten Werke lautet: »Siegfried Unseld, dem großen Verleger, danke ich in Freundschaft, Max Frisch, 10. Mai 1976«.] Immer wieder murmelte er: ›Es stimmt, das Einfache und Klare ist wahr . . .‹
Dann verließen wir das Airport-Restaurant und gingen zu einem zweiten Platz: einem Restaurant bei der Kirche Maria Plain. Wir fuhren in seinem neuen Wagen, siehe da, ein neuer Mercedes. Er verfuhr sich etwas, aber dann standen wir hoch über Salzburg im Garten dieses Restaurants. Es war einzigartig schön. Da Föhn herrschte, kamen die Festung Salzburg und die Stadt immer näher heran, ein starker warmer Wind peitschte durch den Garten, hob immer wieder die Decken von den Tischen, was eine eigentümliche Bewegung im Garten gab, in dem wir schließlich dann ganz allein saßen. Es war, als würde man in einem Wind-Ozean schwimmen.
Wir fingen noch einmal von vorne an. Die Abrechnung; sie sei wirklich überaus befriedigend. Das Bargeld; ungemein angenehm.
Was Schaffler beträfe, so sei es das letzte Buch, das er ihm gegeben habe, er sei mit ihm auch nicht mehr so einverstanden. Das Schafflersche Verlagsprogramm sei doch wohl ein Witz.
Er wird seine Verträge mit Schaffler auch ändern, so daß er das Recht hat, jederzeit die Schaffler-Texte in einem anderen Zusammenhang zu bringen.
Dringlich bat er mich um einen Vorschlag für die Regelung seines Nachlasses.
Dann sprach er euphorisch über seine Arbeitspläne. Er säße an einem neuen Stück mit dem Thema ›Richter und Kunst‹. 6 Personen.
Der Prosa-Band ›Erinnern‹ sei fast abgeschlossen.
Die beiden Bücher könnten dann im Frühjahr 1977 gebracht werden und im Herbst 1977 der neue Roman und – so sein Wunsch – das ›Lesebuch‹ [siehe Brief 214].
Das seien seine großen Arbeiten, und die seien für Suhrkamp und er sei fanatisch mit diesen Arbeiten beschäftigt. [. . .]
Ich solle nicht so sehr in die Zukunft schauen, ihn interessiere am Verlag nur die Gegenwart.
Er hätte das erreicht, was er sich vorgenommen habe: die materielle Sicherung seiner Arbeit. Jetzt sei er unabhängig, er könne schreiben, was er wolle.«