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Ohlsdorf
25. 3. 74
Lieber Siegfried Unseld,
die »Jagdgesellschaft« ist ein Buch geworden, das mich freut und dafür heute meinen Dank1 und wenn alles am Burgtheater sich nach dem gefährlichen Muster einer Fieberkrankheit entwickelt mit allen Krämpfen, Schüttelfrösten und Schmerzzuständen, mit allen mimischen Schauerlichkeiten, wie sie gerade an einem so grossen Theater notwendig sind, kommen wir, weil wir einen jungen kräftigen, rücksichtslosen, in vielen Beziehungen und Augenblicken genialen Doktor aus Bremen in dem riesigen Kreissaal der Burg haben, vielleicht auch noch zu einer guten Aufführung. Es sollte ja eine Todeskomödie sein. Wir werden sehen.2
Nun zu dem Punkt, der Ihnen wahrscheinlich der wichtigste ist: wie ich schon Rach bei seinem Besuch in Attnang-Puchheim (auf der berühmten Bahnstation also)3 gesagt habe, arbeite ich seit Monaten an der vierten Dimension der »Korrektur«. Und wie ich sehe, bin ich damit nicht vor Ende April fertig. Das ist vollkommen klar. Es kann also nicht die Rede davon sein, dass Sie jetzt das Manuskript bekommen. Auch nicht auf dem Weg einer Perversität, indem Wolfgang Schaffler das Manus mit nach Frankfurt nimmt, wie Sie selbst, als phantasievoller Verleger, sich das vorgestellt haben. In aller Ruhe: die »Korrektur« wird seit Monaten einer nochmaligen Korrektur unterzogen. Es muss das Gesellschaftsgleichgewicht hergestellt werden, das der Natur der Gesellschaft in höchstem Masse entspricht. Es ist die inzwischen gemachte Erfahrung, die mich gezwungen hat, den schon einmal, wie ich glaubte, perfekten Körper des Manuskripts, ein zweitesmal zu zerlegen. Ich bin glücklich, dazu die Zeit zu haben und ich bitte Sie, sich vorzustellen, dass auch Sie an diesem Glück Anteil haben. Es ist ein Glück um acht Ecken, über hundert Berge, in der entferntesten Ferne. Sie verstehen.
Die Tatsache ist die, dass ich nicht vor Ende April mit dem Manus fertig bin und ich sehe, wie ich Ihnen das Buch im Hotel Sacher in Wien, wohin Sie ja, wie ich hoffe, zur »Jagdgesellschaft« kommen werden, in die Hand gebe. Diese Bemerkung selbst im Hinblick darauf, dass die Übergabe von Manuskripten einen Akt von Lächerlichkeit in allerhöchstem Grade darstellt. Wir werden es aber mit bewusstem Kopf und bei einem guten Essen (vielleicht Tafelspitz!?) ertragen können. An dieser Stelle fällt mir ein, dass es Zeit ist, dass wir uns bald wieder sehen und dazu bietet Wien, das nachösterliche, die beste Gelegenheit.
Ein Osterspaziergang schadet Ihnen nicht als Abwechslung von Ihren fortwährenden Friedhofsausflügen. Schade um Ihre Ohren, die dauernd Leichenreden anhören müssen. Aber Sie werden sehen, die Leichenreden nehmen mit dem Alter zu – wie auch die Gleichgültigkeit vor den offenen Gräbern.4
Nocheins: die »Korrektur« ist eine mathematische Aufgabe und wird dann erst, wenn sie perfekt gelöst ist, zur Schönen Literatur. Andererseits hat das alles nichts mit Astrologie zu tun.
Also: Ende April (den 30.) Hotel Sacher, »Korrektur«.
In Wien kann alles besprochen werden.
Herzlich
Thomas B.
1 Die Jagdgesellschaft erscheint als Band 376 der Bibliothek Suhrkamp am 8. April 1974.
2 Der Regisseur der Premiere der Jagdgesellschaft am Burgtheater, Claus Peymann, ist in Bremen geboren.
3 Rudolf Rach besucht Th. B. in Oberösterreich am 25. Februar 1974.
4 Am 1. bzw. 3. Februar 1974 sterben die Verlagsautoren Marieluise Fleißer bzw. Erhart Kästner.