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Ohlsdorf
11. 2. 72
Lieber Doktor Unseld,
gerade lese ich eine Besprechung im »Nouvel Observateur« vom 31. Januar |»Verstörung«|, die ich zur Lektüre empfehle.1
Herrn Rach habe ich vor einer halben Stunde über alles mögliche das neue Stück betreffend, geschrieben, bitte unterhalten Sie sich mit ihm.2
Die Salzburger Aufführung wird aufgezeichnet und ich bitte Sie, in der Abmachung mit dem Fernsehen unsere Absprache, das Honorar hat in Höhe meiner gesamten Verlagsschulden zu lauten, nicht zu vergessen.
»Frost« wird nächsten Winter gedreht, mit allerneuesten Apparaturen, ein Jahr Vorbereitung, darauf drängte ich. Der Vertrag wird aber in Kürze unterschrieben.3
Der Grimmepreis hat hier viel geebnet.
»Der Italiener« aber ist, glaube ich, vor einiger Zeit schon an den Deutschen Taschenbuchverlag in Lizenz gegeben worden. Was soll ich dazu sagen?
Ich empfinde es als unsinnig und doch auch mehr als kurzsichtig, dass Sie sich monatelang nicht melden.
Andererseits bin ich allein am besten.
Mehr und mehr stellt sich mir der Verlag als eine anonyme gegnerische Macht dar. Entkräften Sie diesen Eindruck.
Die meiste Zeit bin ich wütend, wenn ich nur an Suhrkamp denke.
Vielleicht sollten wir einmal wieder zusammensitzen.
Oder auch nicht.
Die Gleichgültigkeit hilft mir über alle Berge von Unrat.
Man kann nicht genug Gegner sein.
Der Pegel des Stumpfsinns steigt.
Der Verlag ist dumm, wenn er glaubt, den Grillparzerpreis, den er für sein eigenes Produkt (»Boris«) von der Akademie der Wissenschaften zu Wien bekommen hat, ignorieren zu können. Hochmut oder etcetera.4
Antworten Sie auf diese Sätze nur, wenn Sie gerade in einer Phase mit Humor sind.
Der blödsinnige Grimmepreis, kann ich nur sagen.5
Zuletzt noch ein ernster Satz: ich erbitte sofort die erst im März fällige Rate von zehntausend auf mein Gmundner Konto.
Es wäre so vieles noch anzumerken, dass es unsinnig ist, noch eine einzige Anmerkung zu machen.
Wir stehen alle auf einer Eisdecke von Missverständnissen. Rühren wir uns also besser nicht, sonst brechen wir ein.
Mir wäre recht, wenn Sie mir gleich antworteten.
Nehmen Sie alles, wie Sie wollen.
Ihr
Thomas Bernhard
|P. S.: Vielleicht ist in Frankfurt HOPFEN u. MALZ verloren?!|
1 Siehe Michel Cournot: Le mal du Prince. »Perturbation« par Thomas Bernhard, in: Le Nouvel Observateur, 31. Januar 1972.
2 In seinem Brief an Rudolf Rach vom 11. Februar 1972 bezeichnet Th. B. »die Tatsache, dass Ganz den Doktor spielt und dass Herrmann und Bickel mitarbeiten in Salzburg [. . .] als die glücklichste«. »Ich denke, es müsste sich alles zum besten entwickeln lassen mit dem Stück, indem es nach Salzburg die Hamburger in der Premierenbesetzung übernehmen, und es dann gleichzeitig in Zürich und Berlin gespielt wird. Darauf soll alles seinen Lauf nehmen, aber zuerst in Zürich und Berlin nach der Hamburger Übernahme, empfinde ich als folgerichtig. Selbstverständlich sollen Sie einem Mann Ihres Vertrauens ›den Wahnsinnigen und Ignoranten‹ zum Lesen geben, aber im allgemeinen bin ich dafür, dass wir nicht die ganze scheussliche Theaterwelt mit unserem Stück vertraut machen, dass wir nicht selbst schuld sind, wenn im Sommer alle mein Schauspiel kennen und ihr Urteil noch bevor der Vorhang aufgegangen ist, gebildet haben. Dieser übliche Weg ist der grauenhafteste. Warum soll es nicht in Nürnberg aufgeführt werden, warum nicht einmal in einem Siechenhaus oder in einem Kindergarten, dagegen habe ich nichts, aber zuerst gehört nichts verpatzt. Im Übrigen war der ›Boris‹ in Zürich doch ein sehr grosser Erfolg und diesen Samstag, morgen, lese ich, wird es noch einmal gespielt [siehe Brief 178]. [. . .] Zum Schluss: sollten wir nicht einmal zusammenkommen in Kürze und einen genauen Schlachtplan in letzter Minute [[zu]] entwerfen, der dann durchzuführen ist???? Damit wir nicht Fehler machen, Unterlassungen begehen, die dann ein Jahr aus Ärger bringen, sonst nichts??? Deutschland als Kegelbahn, die Theater die Kegel – wir haben die Kugel in der Hand. Was mit der Kugel tun?« Zu einem solchen Treffen kommt es am 19. und 20. Februar in Ohlsdorf und Gmunden. Einem Brief Rudolf Rachs an Th. B. vom 3. März 1972 ist zu entnehmen, daß gemeinsam ein »10-Punkte-Katalog« erarbeitet wurde. Zu diesem Katalog gehört der Versuch, die bereits vertraglich fixierte Aufführung von Ein Fest für Boris mit Judith Holzmeister am Wiener Burgtheater abzusagen. Siehe auch Karl Ignaz Hennetmair: Ein Jahr mit Thomas Bernhard, S. 133ff. Das Akademietheater (das zweite Haus des Burgtheaters) bringt die österreichische Erstaufführung von Ein Fest für Boris am 2. Februar 1973: Regie Erwin Axer, Judith Holzmeister spielt Die Gute.
3 Am 4. Dezember 1971 bittet Th. B. brieflich Helene Ritzerfeld, einen Vertrag mit dem ORF für die Verfilmung von Frost auszustellen. Regisseur soll Ferry Radax sein, die Dreharbeiten sollen im Winter 1971/1972 stattfinden.
4 Die Überreichung des mit 30 000 ÖS dotierten Grillparzer-Preises an Th. B. für Ein Fest für Boris findet am 21. Januar 1972 im Rahmen der Grillparzer-Gedenkfeier der Wiener Akademie der Wissenschaften zu dessen 100. Todestag statt. Die Übergabe des Preises nimmt der Vizepräsident der Akademie, Herbert Hunger, vor. In der Laudatio heißt es: »Das Preisgericht hat [. . .] Ihnen diesen nur alle drei Jahre zu vergebenden Preis für Ihr Schauspiel ›Ein Fest für Boris‹ zugesprochen [. . .]. [. . .] Das Preisgericht begründete seinen Entschluß damit, daß Ihr Schauspiel ›Ein Fest für Boris‹ für unsere Zeit von exemplarischer Bedeutung sei. Ihr Drama, das von manchen Kritikern mit Büchner, mit Beckett oder Ionesco verglichen wurde, sei sprachlich von einer drängenden, in dauernd sich steigernden oder ironisierenden Wiederholungen pulsierenden Gewalt.« (Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, No. 3079/1972) Th. B. schildert seine Version der Preisverleihung in Meine Preise, S. 7- 19, sowie in Wittgensteins Neffe (siehe Th. B.: Werke 13, S. 270-276).
5 Siehe Anm. 1 zu Brief 115.