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Ohlsdorf
5. Jänner 81
Lieber Siegfried Unseld,
ich schicke heute die »Gipfel«-Komödie und ich habe nur den Wunsch, dass Sie mir das fertige Buch so bald als möglich zuschicken.
»Am Ziel« wünschte ich mir in derselben Ausstattung wie seinerzeit den »Ignoranten« und vielleicht kann dieses Buch bis Juni fertig sein.1
Ich arbeite am Roman, der Titel ist »Der Sohn«.
Vom 7. bis etwa 28. Jänner bin ich in Bad Ischl, Kurhotel, zu erreichen.
In den letzten Tagen dachte ich immer wieder, wie weit wir in den letzten beiden Jahren auseinander gekommen sind, habe ich mich von Ihnen oder haben Sie sich von mir mit grösserer Geschwindigkeit als die Zeit überhaupt, entfernt? – ich weiss es nicht.
Zwei Tage laufe ich mit dem Satz herum: ich habe einen Verlag, aber keinen Verleger.
Ich werde aber jetzt nicht grübeln, sondern arbeiten.
Im Übrigen liebe ich wenigstens genauso oft mein Leben, wie ich es verabscheue.
Wenn es ernst ist, erhalte ich von Siegfried Unseld kein Zeichen. Schade, dass mein Verleger nicht auch mein Freund ist.
Aber wahrscheinlich ist alles, so, wie es ist, das Beste.
Nur ein Wahnsinniger fordert ständig die Verwirklichung seiner Idealvorstellungen. Wahrscheinlich bin ich wahnsinnig. Aber ich bin dazu auch noch das Gegenteil.
|*| An Ihr Vorzimmer denke ich unbeschwert und mit dem grössten Vergnügen!2
Sehr herzlich Ihr
Thomas Bernhard
|*nur|
1 Über allen Gipfeln ist Ruh, dessen korrigierte Druckfahnen Th. B. an den Verlag zurücksendet, erscheint als Band 728 der Bibliothek Suhrkamp am 29. April 1981. Den Brief begleitet eine Kopie des Manuskriptes des Theaterstücks Am Ziel.
2 Am 7. Januar sendet Burgel Zeeh ein Telex an Th. B. in Bad Ischl: »Das Vorzimmer, an das Sie so unbeschwert denken, möchte Sie bitten, sich für einen Anruf aus dem Hinterzimmer am Freitag, 9. Januar, 10 Uhr, parat zu halten.« Bei diesem Telefonat entsteht, wie aus einer am selben Tag zusammengestellten, von Th. B. zu beantwortenden Frageliste zu erschließen ist, die Vereinbarung über ein Treffen in Bad Ischl am 12. Januar 1981. Über diesen Aufenthalt schreibt S. U. im Reisebericht München—Salzburg—Bad Ischl, 11.-12. Januar 1981:
»Die lange Anreise [von Salzburg] nach Bad Ischl (1 \2 Stunden mit dem Bus, fast zwei Stunden mit dem Zug) wird durch ein schönes Winterpanorama belohnt: Kaiser Franz Joseph wußte, warum er in Bad Ischl sein Sommerschloß errichtet hat, das sich jetzt im Winterschlaf befindet.
Thomas Bernhard war schon seit zehn Tagen in Ischl, wo seine Tante kurt. Er wollte noch acht Tage bleiben, der Ort sei einerseits klimatisch für ihn günstig, ›gesund‹, andererseits erfasse ihn ein wachsender Ekel gegen Ort und Leute, was aber dann doch eine sehr günstige Bedingung zum Arbeiten sei. Ja, er arbeite gut, das Manuskript ›Der Sohn‹ soll im März fertig sein.
Als wir allein waren, begann sogleich anhand des Manuskriptes das Gespräch über sein neues Stück ›Am Ziel‹.
Meine erste Frage hatte er erwartet: das ist doch gar nicht das Stück, von dem er mir beim letzten Besuch berichtet hatte [siehe Anm. 2 zu Brief 407] und das er dann selber dem Präsidenten der Salzburger Festspiele ›verkauft‹ hatte? Er lachte, ja, Sie haben recht; da die Salzburger aber doch nicht lesen und Peymann das Stück nicht kannte, gab er dem neuen Stück den Titel ›Am Ziel‹. Mir schien dieser Vorgang nicht richtig, zumal der Titel ›Am Ziel‹ für das neue Stück nicht nur nicht paßt, sondern irgendwie unsinnig ist, denn es zeigt sich ja gerade, daß diese drei Personen nicht ans Ziel gekommen sind. Er will sich das überlegen.
Dann kam mein zweiter Einwand: in diesem Drei-Personen-Stück tritt ein ›dramatischer Schriftsteller‹ auf. So benennt ihn die den Hauptpart sprechende Mutter, und so weist ihn auch das Personenverzeichnis aus. Wenn man vielleicht noch annehmen kann, daß die alte Frau ihn ebenso benennt, worin auch eine leichte Utopie liegen kann, so sollte das doch nicht im Personenverzeichnis so stehen. Auch das wollte er sich überlegen.
Dann gab es einige Details, die er zu meiner großen Überraschung sehr interessiert und freundlich aufnahm. An zwei Stellen fehlten eine oder zwei Zeilen; ich bat um ein neues Manuskript als Satzvorlage, denn die von Peymann gemachte Fotokopie ist so schlecht, daß man zumindest die beiden oberen Zeilen gar nicht mehr lesen kann.
Nach der Durchsicht des Manuskriptes kamen dann die Punkte der Traktanden-Liste: […]
Bernhard will in Österreich keine Aufführungen, jedenfalls keine normalen. Sollte sich etwas Außerordentliches anbieten (im Hinblick auf Besetzung und Honorar), ist das mit Bernhard zu besprechen.
Bernhard und Peymann waren der Meinung, daß die Salzburger Festspiele definitiv die Aufführung des Stücks ›Am Ziel‹ beschlossen haben. Das sei auch angekündigt worden. Ich habe keine Ankündigung gesehen, kennen wir eine solche? Wir müssen dann den Vertrag schicken auf der Basis meines letzten Briefes an Präsident Kaut [siehe Anm. 2 zu Brief 413].
Aufführungen in Deutschland. ›Minetti‹ kann nur Minetti spielen, und der ›Weltverbesserer‹ ist vorläufig auch an Minetti gebunden. Sonst aber können wir Aufführungsrechte vergeben: freilich, der Autor will in keinem Fall eine ›Inflation schlechter Aufführungen‹, und da hat er recht. Also: wir wollen von uns aus nach wie vor selektiv verfahren.
Nach der Traktanden-Liste machten wir dann einen Marsch durch die Park-Anlagen der Stadt. Er war dann ausgesprochen heiter und zum Scherzen aufgelegt. So akzeptierte er, beim Scherz für die Germanisten mitmachen zu wollen. Das Manuskript ›Unruhe‹ [späterer Titel Auslöschung] habe er beiseite gelegt, das würde er später veröffentlichen, wenn ihm nichts mehr einfiele. Ja, und dann der 9. Februar, sein 50. Geburtstag. Er wollte kein Abendessen, das Abendessen, das ich ihm zu seinem 40. Geburtstag in Brüssel ausgerichtet habe, sei so schön gewesen und man brauche das nicht zu wiederholen. Grüße an Minetti und Peymann [siehe Brief 412], und dann fügte er hinzu: am liebsten würde ich an dem Tag nur mit Ihnen allein Abendessen. Ich versprach ihm, das einzurichten, nur sollte er einen Ort wählen, bei dem ein Flugplatz möglichst in der Nähe liegt. Dann über Gott und die Welt. Er wußte, daß Peter Handke ein Stück geschrieben hatte und daß dieses Stück in Salzburg 1982 aufgeführt würde [Über die Dörfer in der Regie von Wim Wenders]. Dezidiertes Urteil über Kollegen, Intendanten, Regisseure, Kritiker. Die sehr schöne, ausführliche Kritik der ›Billigesser‹ in der ›Frankfurter Rundschau‹, die ich ihm mitbrachte, wollte er nicht lesen [Werner Irro: Einer gegen den Massenwahnsinn, in: Frankfurter Rundschau, 8. Januar 1981].
Was hielte er von der Konstellation, daß der Papst, ein Pole, mit dem Nobelpreisträger Mi\losz, dem Exil-Polen, über Lech Wa\leôsa gesprochen habe? Satirische Reaktion, von diesem reaktionären Papst hielte er überhaupt nichts, Mi\losz [sei] ein mittelmäßiger Schriftsteller, und Lech Wa\lesa mache ihm eher Sorgen. Er glaube nicht, daß das zu halten ist. Die Russen würden kommen und dann käme die Eiszeit.
Mittagessen mit der Tante, Frau Stavianicek, und meiner Frau. Bernhard lud uns ein und war ein sehr aufmerksamer Gastgeber.
Während meines Aufenthaltes hatte zweimal Herr Schaffler vom Residenz Verlag angerufen, Bernhard nahm das Telefon nicht ab. Wahrscheinlich wollte Schaffler ihm das Erscheinen des Buches ankündigen, das nun nicht mehr im Dezember, sondern nun eben Anfang Januar erscheinen sollte [Die Kälte]. Auf meine Frage, ob Schaffler wisse, daß das das letzte Buch sei, das er von ihm bekäme, und daß wir die jetzt dort erschienenen vier Bände mit neuen Texten zu einem Band ›Kindheit und Jugend‹ vereinen würden, antwortete er: nein, Schaffler wüßte davon nichts. Aber es sei Zeit genug, es ihm zu sagen. Über dem sonst so sonnenklaren Bad Ischl kamen einige Wolken auf. Dann der Schelm: Wolken machen erst den Himmel schön.
P. S.: Sein Beitrag für die Frisch-Festschrift: Er könne zu Frisch nichts schreiben. Als ich ihn nach seinen ersten Begegnungen mit Frisch fragte, begann er zu erzählen: er habe in zwei verschiedenen Privat-Bibliotheken ›Homo faber‹ gesehen und gelesen. Nun wird er den Versuch machen, diese ›Begegnung‹ zu beschreiben. [Th. B. schreibt keinen Beitrag zu Begegnungen, der Festschrift zum 70. Geburtstag von Max Frisch.]«