[302; Anschrift: Ohlsdorf]
Frankfurt am Main
13. August 1974
Lieber Herr Bernhard,
anbei schicke ich Ihnen den Briefwechsel mit dem Augsburger Oberbürgermeister. Wollen Sie nach Augsburg fahren? Dort wird ja wohl keine Lynch-Justiz mehr vorherrschen. Für den Fall einer publizistischen Ausweitung noch die Frage: waren Sie jemals in Augsburg? Was reizt Sie gerade an der Namensmetapher Augsburg, vielleicht ihr berühmter Sohn?
Schöne Grüße
Ihr
[Siegfried Unseld]
Anlage1
[Anlage; Brief von S. U. an Hans Breuer]
Frankfurt am Main
9. August 1974
Verehrter Herr Oberbürgermeister,
vielen Dank für Ihren Brief vom 7. August 1974. Ich respektiere durchaus, daß Sie sich für das Ansehen, die Interessen und Belange der Stadt Augsburg und ihrer Bürger einsetzen, doch all dies ist durch Thomas Bernhard und sein Stück »Die Macht der Gewohnheit« ganz und gar nicht in Frage gestellt. Es handelt sich um eine Komödie, und das heißt auch, daß alles, was darin über Augsburg oder andere Städte gesagt wird, Äußerungen theatralischer Figuren sind. Thomas Bernhard hat nicht, weder in einem Interview noch in einem Artikel, seine persönliche Meinung über die Stadt Augsburg veröffentlicht, sondern eine Figur seines Stückes, der Zirkusdirektor Caribaldi, hat in bestimmten dramatischen Momenten voller Erregung und Zuspitzung sich über eine Stadt geäußert, die rein zufällig die nächste Station seiner Tournee ist. Es könnte dies jede andere Stadt sein; der Name Augsburg hat dabei wirklich nichts mit der Realität Ihrer Stadt zu tun.
Bitte vollziehen nicht auch Sie dieses Mißverständnis, unter dem die dramatische Literatur so oft hat leiden müssen – ein Mißverständnis, das immer eintritt, wenn man den Autor für die Äußerungen seiner Figuren zur Rechenschaft ziehen möchte. Ein Theaterstück besteht aus Konflikten und Kontroversen, Widersprüchen und Dialogen, und in der Herstellung dieser Zusammenhänge ist der Autor genötigt, seinen Figuren so viel Selbständigkeit und eigenes Leben zu gestatten, daß sie auf der Bühne auch alle Verantwortung für ihr Tun und Lassen zu tragen haben. Auf diese Weise entstehen dann Ereignisse und Äußerungen, die nicht unbedingt im Sinne des Autors liegen, sondern alleine die Autonomie seiner Figuren beweisen. Oder würden Sie glauben, daß der von Ihnen zitierte Bertolt Brecht die Machenschaften seines Mackie Messer billigen würde und damit auch verantworten müßte?
Und denken Sie doch bitte an die Beispiele, die uns die Literaturgeschichte bietet. Beispiele viel vehementerer und böserer Art, in denen Autoren sich mit ihrer Heimatstadt auseinandersetzen. Wenn man das historisch betrachtet, so haben diese Äußerungen ja wirklich den Städten nicht geschadet. Litt Göttingen darunter, daß Heine sie als eine Stadt bezeichnete, die man am schönsten mit dem Rücken betrachtet? Glauben Sie, daß der Haßgesang von James Joyce auf Dublin die Liebenswürdigkeit dieser Stadt beeinträchtigt hätte? Ist letztlich Lübeck nicht durch kritische Äußerungen von Thomas Mann geadelt worden? Oder denken Sie an einen Ihnen benachbarten Fall: ein Leben lang hatte Marieluise Fleißer unter den Ingolstädtern zu leiden. Jetzt wird sie von ihnen geehrt, mit Recht, sie hat die Stadt aus ihrer Provinzialität herausgeführt.
Verehrter Herr Oberbürgermeister, ich nehme Ihre Besorgnis überaus ernst, aber ich hoffe auch, daß ich Sie überzeugen konnte. Ihre großzügige Einladung gebe ich gerne an Thomas Bernhard weiter, er ist gegenwärtig im Ausland. Meinerseits darf ich Ihnen ein Exemplar der Buchausgabe des Stückes zusenden, damit Sie Gelegenheit haben, diese Äußerungen im Kontext des Ganzen kennenzulernen. Ich glaube, Sie erhalten dann doch einen anderen Eindruck als durch die von der Presse aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate. Die letzte Aufführung der »Macht der Gewohnheit« in Salzburg wird am 21. August stattfinden. Ich bin gerne bereit, zwei Karten für Sie reservieren zu lassen, damit Sie sich selbst von meinen Argumenten überzeugen können.
Nach Ihrem Brief bedaure ich besonders, daß das Augsburger Theater das Gastspielangebot für Bernhards Stück nicht angenommen hat. Ich könnte mir vorstellen, daß die Bürger dieser Stadt Bernhards Komödie als Komödie aufnähmen, daß sie den Lech sehen, wie er ist, und daß sie sich nicht diffamiert fühlten.
Mit einem freundlichen Gruß
bin ich Ihr
Dr. Siegfried Unseld
1 In Die Macht der Gewohnheit fragt der unter rheumatischen Schmerzen leidende Zirkusdirektor Caribaldi (Th. B.: Werke 16, S. 102). »Gibt es denn in Augsburg / überhaupt einen Arzt / einen Rheumaspezialisten / in diesem muffigen verabscheuungswürdigen Nest / In dieser Lechkloake«. Unter anderem auf diese Passage reagiert Hans Breuer, der Oberbürgermeister der Stadt Augsburg, in einem Brief an S. U. vom 7. August 1974:
»Sehr geehrter Herr Unseld! Wie abstrakt oder wie konkret ist das Gemeinwesen Stadt? Hat eine Stadt als lebendige Gemeinschaft ihrer Bürger auch eine Ehre, die verletzt werden kann? Werden Ansehen und Geschäfte einer Stadt geschädigt, wenn ihr im öffentlichen Rampenlicht unwahr und diffamierend Übles nachgeredet wird? Das sind sicher sehr interessante Fragen für Publizisten und Juristen und derzeit auch für unser städtisches Rechtsamt. Zuvörderst aber möchte ich bei Ihnen vorstellig werden, um Interessen der Stadt Augsburg und Belange der Bürger zu wahren.
Dies ist der Grund meines Schreibens: In Ihrem Verlag, sehr geehrter Herr Unseld, ist das Stück ›Die Macht der Gewohnheit‹ von Thomas Bernhard erschienen, das soeben in Salzburg uraufgeführt wurde. In diesem Stück wird — wenn Presse und Rundfunk aus der Aufführung richtig zitieren – die Stadt Augsburg als muffiges und verabscheuungswürdiges Nest diffamiert, und es werden die Augsburger als die am schlimmsten abstoßend riechenden unter allen Zirkuszuschauern beschimpft. Das scheinen mir selbst für eine Komödie doch allzu bitterböse Worte, die Herr Bernhard auch mit dem Hinweis auf die Freiheit eines Autors nicht rechtfertigen könnte.
Nicht einmal der Dichter Bert Brecht hat behauptet, daß Augsburg eine Lechkloake sei, und Brecht war kritisch und hat Augsburg gekannt. Er wurde an einem Augsburger Lechkanal geboren und ist nahe am Stadtgraben aufgewachsen. Ich muß annehmen, daß Herr Thomas Bernhard unser Augsburg überhaupt nicht kennt.
Deshalb möchte ich Herrn Bernhard einladen, doch bald einmal nach Augsburg zu kommen und hier drei Tage lang unser Gast zu sein. Die Stadt Augsburg wird die Kosten seines Aufenthaltes tragen, und wir werden ihm auch gerne alles zeigen, was immer er sehen will, und ihn auch zum Lech hinführen und ihn mit Menschen aller Bevölkerungsschichten bekannt machen. Und dann wird Herr Bernhard sicher bald sehen und fühlen und riechen, daß Augsburg zwar von einer 2000jährigen Geschichte geprägt, aber doch eine schmucke und muntere Großstadt ist mit quellreinem Trinkwasser und mit sauberen Bürgern. Und daß es hier gar nicht so übel riecht.
Übrigens: Rheumaspezialisten haben wir auch.
So darf ich Sie, sehr verehrter Herr Unseld, höflichst bitten, diese Einladung an Herrn Thomas Bernhard weiterzugeben. Ihrer und seiner Antwort sehe ich erwartungsvoll entgegen.«
Wohl in Reaktion auf Zeitungsberichte, wonach Hans Breuer das Augsburger Rechtsamt angewiesen habe, juristische Maßnahmen zu prüfen (etwa in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. August 1974), telegrafiert Th. B. aus Lissabon: »Von Lissabon aus empfinde ich Augsburg noch elementarer scheußlich als in meinem neuen Theaterstück. Mein Mitgefühl mit den Augsburgern und allen in Europa, die sich als Augsburger verstehen, ist ungeheuer grenzenlos und absolut.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. August 1974)