[329; Telegramm]
Gmunden
17. 9. 75
ankomme freitag 8.05 h frueh flughafen erbitte gutes hotelzimmer1
herzlich bernhard
1 Th. B. kommt zur Eröffnungsveranstaltung der Suhrkamp Buchwoche (18.-28. September in Deutschland mit über 100 Veranstaltungen) anläßlich des 25jährigen Bestehens des Suhrkamp Verlags am 1. Juli 1975 nach Frankfurt. S. U. schreibt dazu in seinem Bericht unter dem Datum des 19. September 1975:
»Aus Bonn eintreffend [Die Eröffnung der Suhrkamp Buchwoche findet am 18. September in der Aula der Universität Bonn statt; Max Frisch liest aus dem am 10. September 1975 ausgelieferten Montauk.], fand ich in der Klettenbergstraße einen sehr gut gelaunten Thomas Bernhard vor. Wir hatten noch eine Stunde Zeit für ein Gespräch, dann begann der Suhrkamp-Empfang in der Siesmayerstraße.
Schätzungsweise 250 geladene Gäste, es waren wirklich die Frankfurter Freunde des Verlages. Ich hielt meine für Frankfurt gewendete Rede zur Eröffnung der Buchwoche. Danach las Thomas Bernhard die letzten Seiten des ersten Teils der ›Korrektur‹; er las großartig: musikalisch, beschwingt, heiter, die musikalische Struktur des Buches zeigend. Anschließend Gespräche bis Mitternacht. Es war ein schöner Boden an Sympathie, und wir wurden von vielen guten Wünschen begleitet.«
Unter der Überschrift Neue Narrenburg heißt es in der Frankfurter Neuen Presse (22. September 1975) über die Veranstaltung: »Unseld feierte das 25jährige Bestehen des Verlags mit strahlendem Optimismus und wünschte den Geladenen zu Sekt und Rotwein bester Laune eine ›lange Nacht‹. Es war ihm, dem dynamischen Willensmenschen, gelungen, den bis zur Verzweiflung schwermütigen Dichter aus seiner österreichischen Abgeschiedenheit vor die Öffentlichkeit zu bringen. Eine besondere Attraktion. [. . .]
Bernhard schreibt und spricht in einem kontrollierten Automatismus, er sprach die langen Sätze schnell und klar. Hört man ihn oder liest man ihn, man gerät so oder so in den Sog seiner Sprache.
Das Buch scheint mir in der bewußten Nachfolge der Stifterschen ›Narrenburg‹ zu bestehen, hier wie dort bilden phantastische Baukunst und Biographie, Zwang zur Biographie, die sich durchdringenden und deckungsgleichen Themen.«
Am 29. September liest Th. B. ein weiteres Mal im Rahmen der Suhrkamp Buchwoche; diesmal zu deren Eröffnung in Österreich (29. September-3. Oktober 1975) in Wien-Kagran um 20.00 Uhr im Haus der Begegnungen. Im Reisebericht Wien—Graz—Innsbruck, 29. September-3. Oktober 1975 hält S. U. fest:
»Um 19.00 Uhr treffe ich Thomas Bernhard im Hotel Intercontinental. Er war wütend mit dem großen Vorwurf, seinen Auftritt, unseren Auftritt, am falschen Ort inszeniert zu haben. Das Haus der Begegnung läge außerhalb, könne kaum erreicht werden und würde nicht diejenigen Leute dorthin bringen, die sich für einen solchen Abend interessieren. Dr. Berger holte uns ab, und Bernhard landete sofort diesen Angriff auf ihn. Berger verteidigte sich mit dem Argument, daß dieses Haus der Begegnung in einem Viertel läge, das kommend sei, in einem Außenbezirk, der ganz neuartige Bernhard-Leser mobilisiere. Aber davon wollte Bernhard nicht viel wissen. Im übrigen hatte er das Buch ›Korrektur‹ nicht, und niemand wußte, ob es im Haus der Begegnung liegen würde. So bat ich Dr. Berger, noch mal in sein Büro zu fahren, es zu holen. Wir fuhren mit einem Taxi, 25 Minuten, zum Haus der Begegnung. Der Saal war an sich nicht schlecht und akustisch durchaus angenehm, aber es ist für einen Zuhörer schlechterdings nicht zumutbar, eine solche Reise auf sich zu nehmen.
Bernhard war sehr niedergedrückt. Ich versuchte einfach, das Beste aus der Situation zu machen und diese Leute anzureden, die nun dort anwesend waren. Dann las Bernhard, er brauchte eine Zeitlang, bis er anlief, und nach zehn Minuten war er da, und ich bin der Meinung, daß der Abend sehr gut verlaufen ist. Thomas Bernhard jedenfalls war sehr zufrieden. Anschließend zog eine kleine Runde von einem Lokal ins andere. Thomas Bernhard war zufrieden. Weniger zufrieden war Dr. Berger. Er fühlte sich mißverstanden. Seine progressive Idee, Bernhard in Außenbezirken lesen zu lassen, war ihm nicht auszureden.
[. . .] Neues Gespräch mit Thomas Bernhard. Er informierte mich, was vertraulich zu behandeln ist, über seine Absprache mit Professor Klingenberg. ›Die Berühmten‹ werden in der Regie von Claus Peymann an der Burg oder im Akademietheater aufgeführt. Die Proben beginnen Mitte Mai 1976, Aufführung in den letzten Tagen der Spielzeit. Dann sollte auch der BS-Band der ›Berühmten‹ dasein.
Im September 1976 wird er für die edition suhrkamp ›Atzbach‹ fertig machen.«
In der Presse (1. Oktober 1975) schreibt Rudolf U. Klaus über den Abend: »Der Saal, ein Raum von ausgepichter Scheußlichkeit – das giftige Schock-Orange aus Styropor und Plastik stach buchstäblich in die Augen (und man fragt sich, welcher Architekt sich da wohl ausgetobt haben mag!) —, war etwa zu einem Drittel gefüllt, als zunächst Siegfried Unseld, der Chef des Suhrkamp-Verlages, ans Vortragspult trat. [. . .] Bernhard selbst las dann eine etwa halbstündige Passage aus diesem Buch [Korrektur], und was er las, war wahrlich die vorher angekündigte ›Selbstgesprächsfolter‹: Ein ›monologue intérieur‹ von endlosen, kompliziert gedrechselten Sätzen und Phrasen, nur bisweilen zäsuriert durch Einschiebsel wie ›dachte ich‹ oder ›sagte ich mir‹, reflektiv, quälerisch, mit manisch-verzweifelter Komik – Gebetsmühlenprosa. Aber ›echter‹, unverwechselbarer Bernhard.«