[306; Anschrift: Ohlsdorf; Telegrammnotiz]
Frankfurt am Main
20. Dezember 1974
Lieber Thomas Bernhard – rufe Sie Montagmorgen, 23. Dezember, 9 Uhr Post Ohlsdorf an. Neues Stück hervorragend.1
Herzlich Ihr Siegfried Unseld
1 S. U. bezieht sich hier auf das Theaterstück Der Präsident, das Th. B. Rudolf Rach in Hannover am 8. Dezember übergibt. Th. B. erhält dort an diesem Tag – gemeinsam mit Botho Strauß und Franz Xaver Kroetz – den mit jeweils 20 000 DM dotierten und vom Hannoverschen Kunstverein und der Zeitschrift Theater heute gestifteten Hannoverschen Dramatikerpreis für Die Macht der Gewohnheit. »Am Wettbewerb um den Preis konnten teilnehmen alle deutschsprachigen Theaterstücke, die bis zum Einsendeschluß (1. 5. 1974) noch nicht aufgeführt waren.« (Theater heute, H. 1, Januar 1975, S. 1) Die Jury bildeten Rudolf Lange, Bernhard Minetti, Günther Ries, Henning Rischbieter und Ernst Wendt. Auf der Rückfahrt von Hannover treffen sich Th. B. und S. U., der von einem Vortrag in Ulm kommt, in Stuttgart. In der Chronik hält S. U. fest:
»Wir besprachen ein Treffen zwischen den Jahren. Hauptgesprächspunkt war jedoch ein anderer: er weihte mich vertraulich ein, daß er ein Angebot erhalten habe, das Burgtheater als Direktor zu leiten. Er hatte so etwas schon einmal am Telefon gesagt und dazu gelacht. Jetzt fragte er mich ernsthaft, was meine Meinung sei. Ich antwortete spontan, daß ich ihm das nicht empfehlen könnte. Er sei Autor und in seinen Schriften dem Unbedingten verpflichtet. Ein Theater zu leiten bedeutet aber, Kompromisse einzugehen, Kompromisse mit der Kunst, mit der künstlerischen Qualität, mit dem Publikumsgeschmack, mit dem Kommerz, mit der Verwaltung etc. Aber er war schon entschieden. Diese große Aufgabe würde ihn reizen, wenn ein Theater leiten, so dürfte es nur das Burgtheater sein, in ganz Europa. In drei Jahren würde er das antreten, und dann würde er vier Jahre lang von 1977-1981 diese Aufgabe übernehmen, er wäre dann 50 und würde dann zu neuen Ufern aufbrechen. Man konnte da nicht anders, als ihm in diesem Entschluß zustimmen.
Anschließend ging er zu Peymann, um mit Peymann die Aufführung des ›Präsidenten‹ zu besprechen, er weihte auch Peymann in dieses Burgtheater-Angebot ein.«
Das Treffen »zwischen den Jahren« findet am 29. Dezember 1974 in Ohlsdorf statt. S. U. schreibt dazu im Reisebericht Salzburg—Ohlsdorf—Oberweis, 28.-30. Dezember 1974:
»Ohlsdorf
Ein Tag mit Thomas Bernhard. Ich war auf die Minute pünktlich in Nathal bei Obernathal bei Ohlsdorf bei Gmunden am Traunsee im Vierkanthof. Bernhard war ungemein aufgeräumt und schenkte mir eine altchinesische Vase oder Kanne, die sehr gut zu unserem blauen chinesischen Teppich paßt. Es ist ein sehr wertvolles Geschenk und sicherlich das erste, das Bernhard in dieser Größenordnung machte. Wir waren dann den ganzen Tag unterwegs. Er führte mich zu seinen ›Besitzungen‹, wir gingen am Traunsee spazieren, dann fuhren wir Richtung Südosten und wanderten auf den Bergen des Salzkammerguts; dort besuchten wir auch Prof. Wieland Schmied. [. . .] Abends waren wir dann gemeinsam bei Maletas in Oberweis, wo ich auch übernachtete.
Bernhard will für die edition suhrkamp ›Atzbach‹ fertigschreiben. Wir erhielten den Text Ende Februar. [Siehe Anm. 1 zu Brief 194.] Er beteiligt sich auch an den ›Ersten Lese-Erlebnissen‹ und an der Auswahl der Brecht-Gedichte. [Der Band 250 der suhrkamp taschenbücher erscheint 1975 und wird von S. U. herausgegeben. Der Beitrag von Th. B. trägt den Titel In frühester und in rücksichtsloser Beobachtung . . ., S. 96. Band 251 der suhrkamp taschenbücher ist Bertolt Brecht. Gedichte, ausgewählt von Autoren. Th. B. beteiligt sich nicht an diesem Band.] Seine Auswahl zielt auf die kleinen späten Buckower Gedichte. Das Manuskript ›Korrektur‹ gibt er nicht heraus, das hat entweder irrationale oder materialistische Gründe. Im übrigen arbeitet er an einem neuen Stück, das im September 1975 fertig und im Juni 1976 dann bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt werden soll.
Gespräch über die edition suhrkamp. Bernhard empfiehlt, wir möchten doch wieder auf originäre, also Erstdrucke von Literatur zurückgehen. Es gäbe für die edition dadurch wieder eine neue Möglichkeit.
Am nächsten Tag war Bernhard krank: Bronchialkatarrh. Zwei Tage später ging er ins Spital, weil er eine Belastung seiner Lungen befürchtete. Ich bekam diesen Katarrh exakt vier Tage später.«
In der Chronik ergänzt S. U. seinen Reisebericht:
»Thomas Bernhard, 29. Dezember 1974
Ich war den ganzen Tag über skeptisch, was sich Bernhard noch ausgedacht haben könnte. So ist zum Beispiel das Manuskript ›Korrektur‹ sicherlich fertig, aber wahrscheinlich gibt er es nicht heraus, weil unsere bisherige finanzielle Vereinbarung ›Korrektur‹ mit einschließt. Er aber möchte wahrscheinlich hierfür noch einen größeren Betrag ›herausholen‹. Das ist eine Vermutung.
Dann hat sich der schlaue Fuchs noch etwas ausgedacht: Bernhard hat jetzt drei Häuser mit teilweise größerem Land- und Waldbesitz. Er hat sich jetzt in Gmunden noch eine Wohnung gekauft [Lerchenfeldgasse 11], die er als sein ›Archiv‹ einrichten möchte, dies gegenüber der Steuer. Er glaubt, eine Möglichkeit zu haben, diese Wohnung, die etwa 140.000.— DM kostete, gänzlich 1974 von seiner Steuer absetzen zu können. Ich meldete hier meine größten Zweifel an, aber er meinte, das sei für ihn möglich. Er hat nun von der Oberbank Gmunden einen Kredit von 100.000.— DM aufgenommen, und er wäre sehr froh, wenn wir diesen Kredit übernehmen könnten. Ich war so ziemlich sprachlos, machte ihm auch keine Zusagen; ich kannte durch ein Gespräch mit Herrn Schaffler seine Steuersituation. Wir werden uns hier überlegen müssen, was wir machen.«