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Ohlsdorf
21. 3. 73
Lieber Siegfried Unseld,
Sie selbst lieben die Kürze, keine langen Erklärungen, darum auch nichts darüber, warum ich längere Zeit keinen Ihrer kurzen Briefe beantwortet habe; die Tatsache als solche ist in jedem Fall die einzige Erklärung für alles.
Die wichtigen Punkte:
1. »Die Jagdgesellschaft« wird zuerst in Wien gespielt, in Deutschland zuerst am Schillertheater. Dann denke ich nurmehr noch an Hamburg, wo die Intendanz schwachköpfig und an München, wo sie garantiert stumpfsinnig ist. Über die Spielwilligkeit anderer, kleinerer Theater, was einfach doch kleinere Schauspieler bedeutet, bitte ich, mit mir zu sprechen. Sie selbst wissen, dass es keinen Sinn hat, Kinder in allen Häusern abzulegen, wo sie verkommen.
Was die finanzielle Seite in Bezug auf die Theater betrifft, so habe ich weder Lust noch die dazu nötige Dummheit, für tausendzweihundert Mark (»Boris«) »ein Hamburger Schauspielhaus über Jahre zu prägen« (Nagel), noch »eine jahrelange Theatermisere zu beenden« (»Süddeutsche Zeitung«, München betreffend) um 500 Mark. Eine Schweizerische Erstaufführung für 600 Mark spare ich mir als Ohrfeige, ebenso den Steirischen Herbst für 550.1 Diese Dinge müssen nocheinmal ausgesprochen werden. Der Geldgierige bin nicht ich. Die Verbrecher sind eindeutig die (Staats-) Theater. Die Höhe der Schuld der Verleger, ihren Anteil an diesen Verbrechen, können Sie selbst bestimmen.2. habe ich den Roman fertig, aber ich fahre Anfang April auf drei oder vier Wochen nach Jugoslawien, Fortsetzung einer zwanzigjährigen Tradition, wie Sie wissen, und nehme das Manuskript mit. So am Fenster vor einer weissen Wand mit dem Meer im Rücken, kann ich dann noch ein paar Beistriche streichen oder den sechsten Finger eines Philosophischen abschneiden. Der Kopf darf eben nicht zu kurz kommen.
3. habe ich auch »Erinnern« dann mit und im Augenblick bin ich damit beschäftigt, ein paar Sätze darüber für Ihren Prospekt zusammenzudenken. (Denken aus allen Richtungen auf einen Punkt, der der Treffpunkt ist.) Dazu ist zu sagen, dass mir die Idee gefällt, »Erinnern« in Ihrer Bibliothek erscheinen zu lassen, wie auch die »Jagdgesellschaft«. Punkt
4. ist ein recht heikler Punkt: soviele Bücher, die ich aufmache, beweisen mir, wieviele Schriftsteller meine Prosa gelesen haben. Andauernd kommen [[mir]] lauter Enkel und mit diesen Enkeln verwandte Enkel meiner Figuren auf mich zu. Wirkung ist letztenendes etwas Furchtbares. Im Augenblick ist es noch nicht so weit, dass, wenn ein Theatervorhang aufgeht, mir meine Figuren (oder jedenfalls andere Figuren in meinen Fetzen / oder königlichem Geschirr) entgegenkommen. Jedenfalls gehe ich ja überhaupt nicht ins Theater, deshalb keine Angst! Ich ziehe die Furchen, die andern ernten die Kartoffel! Diese Bemerkungen Über das Schädliche nur damit Sie nicht glauben, ich bemerkte nichts. Punkt
5. ist ein Nebenpunkt. Beckermann hat mir eine »Kalkwerk«-Ausgabe geschickt, damit ich sie durchsehe nach Fehlern für die Taschenbuchausgabe. Dazu habe ich einfach keine Zeit und keine Lust, weil ich keine Zeit habe. Diese fürchterliche Arbeit kann ich nicht machen. Ein »Unbefangener« muss das tun, sauber, korrekt, aus. (Bitte!) Bitte grüssen Sie Beckermann sehr herzlich! Punkt
6. wäre eine Menge Erfreuliches. Darüber schreibe ich aber nichts.
7. bin ich froh, dass »Korrektur« nicht jetzt im Frühjahr herauskommt, denn es kommt ja ein ganzer Haufen von Romanen heraus. Das wäre wohl das denkbar Unsinnigste gewesen. Daran »knüpfe« ich die Frage, ob »Korrektur« im kommenden Herbst oder im Frühjahr 74 [erscheint]. Das Manus hält jede Verschiebung, auch um zehn Jahre, aus. Punkt
8. erinnert an die Ironie, mit welcher wir gut zusammen sind und mit welcher ich allein auch gut bin.
9. frage ich Sie, wann und wo wir uns das nächstemal sehen, da ich ja anstatt in Brüssel, im April an der adriatischen Küste bin. Ich habe meine »Sehnsucht« ins Gegenteil verkehrt. Ein Punkt
10. betrifft die Härte und die Einsamkeit die ich liebe.
Herzlich Ihr
Thomas B.
1 Im Rahmen des »Steirischen Herbsts« kommt es am 15. Oktober 1971 im Grazer Schauspielhaus zur österreichischen Erstaufführung des Stücks in der Regie von Axel Corti. Es spielen Heidemarie Theobald (Die Gute), Elmar Schulte (Boris) und Maria Christina Müller (Johanna).