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Wien
Obkirchergasse 3
22. Oktober 1961
Sehr geehrter Herr Dr. Unseld,
vor ein paar Tagen habe ich an Ihren Verlag ein Prosamanuskript geschickt.1 Damit wollte ich mit dem Suhrkamp-Verlag in Verbindung treten. Ich besitze einige Bücher aus Ihrer Produktion und sie gehören zum Besten aus der neueren Zeit. Das ist es auch, was mich veranlasst hat, gewisse andere Verbindungen, die ich eingegangen bin, zu vernachlässigen.2 Vielleicht lässt sich ein Gespräch mit Ihnen arrangieren: ich komme Ende November durch Frankfurt. Ich kenne Sie nicht, nur ein paar Leute, die Sie kennen. Aber ich gehe den Alleingang.3
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr ergebener
Thomas Bernhard.
1 Th. B. sendet unter dem Datum des 17. September 1961 von derselben Wiener Adresse, der Wohnung von Hedwig Stavianicek, ein Manuskript an den Suhrkamp Verlag mit folgendem Begleitbrief: »Sehr geehrte Herren, ich schicke Ihnen ganz freimütig mein Manuskript ›Der Wald auf der Strasse‹ und bitte Sie, nach Möglichkeit eine Entscheidung darüber bis Ende November zu fällen. Ausserdem bitte ich Sie, den Erhalt des Manuskriptes kurz zu bestätigen. [. . .] P. S. Sie sind der erste Verlag, dem ich das Manus schicke.« Bei dem Manuskript Der Wald auf der Straße handelt es sich um die im Lauf des Jahres 1961 stark umgearbeitete Version des Romans Schwarzach St. Veit, mit dessen Niederschrift Th. B. 1957 begonnen hat. Er wird nie veröffentlicht. Im Januar 1989, einen Monat vor seinem Tod, erscheint ein Teil davon – In der Höhe. Rettungsversuch. Unsinn – im Salzburger Residenz Verlag (siehe Brief 522; zum Typoskript und der Veröffentlichungsgeschichte siehe Th. B.: Werke 11, S. 336-346).
2 Zwischen 1957 und 1959 erscheinen von Th. B. vier Bücher: drei Gedichtbände, Auf der Erde und in der Hölle (1957), In hora mortis (1958), beide im Otto Müller Verlag, Salzburg, Unter dem Eisen des Mondes (1958 bei Kiepenheuer & Witsch, Köln) sowie die rosen der einöde. fünf sätze für ballett, stimmen und orchester im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main (enthalten in: Th. B., Werke 15, S. 7-52). Das Bemühen um weitere Publikationen bei S. Fischer scheitert endgültig im Mai 1961, als der damalige Verlagsleiter, Rudolf Hirsch, ihm alle eingesandten Manuskripte zurückschickt.
3 Der Brief trägt den handschriftlichen Vermerk von S. U. »Ms [Manuskript] an Herrn Michel geben«. Karl Markus Michel schreibt am 24. Januar 1962 an die von Th. B. angegebene Wiener Adresse. »[. . .] leider konnten wir uns mit Ihrem Roman [. . .] nicht so recht anfreunden. Der Stoff, wie er sich in den Personen, im Milieu und in den Ereignissen darstellt, ist ein wenig engbrüstig, bekommt aber dann so viel an Stimmung, Reflexion und anderen Zutaten aufgebürdet, daß ein deutliches Mißverhältnis zwischen dem pragmatischen Fundament und seinem ambitionierten literarischen Überbau entsteht. [. . .] Es werden ganz verschiedene Stilmöglichkeiten ausprobiert, ohne innere Notwendigkeit, ja selbst ohne äußere Sinnfälligkeit, und der Roman gewinnt dabei im ganzen einen recht diffusen Charakter.«