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Ohlsdorf
18. 10. 721
Lieber Herr Doktor Unseld,
wenn ich den Grad der Vernachlässigung, dem meine schriftstellerische Arbeit seit längerer Zeit im Suhrkampverlag ausgesetzt ist, bestimmen soll, muss ich sagen, er ist der grösste; zurückgenommen ausgedrückt, ist es eine mir schmerzliche, allzu unübersehbare Nichtbeachtung (Nichtachtung will ich nicht sagen, weil mir der Begriff der Achtung kein gestatteter ist), während ich doch wenigstens Beachtung erwarten kann.
Ich möchte hier ein paar Punkte aufzeigen, auf die Ihre Antwort, oder wenigstens Ihre Reaktion unerlässlich ist.
Zuerst das mir im Augenblick am wichtigsten erscheinende: die »Korrektur«, ein Manuskript, in welchem ich die grösste Anstrengung mit dem grösstmöglichen Glücksfall einer ununterbrochenen Angespanntheit habe vereinigen können, will ich nicht im Frühjahr, sondern im Herbst 1973 erscheinen lassen. Es gibt verschiedene, alle schwerwiegende Gründe, der Hauptgrund ist aber der, dass ich dieses Buch, das mir |als| das wichtigste aus meinem Kopfe erscheint, nicht einfach unter anderm wie beinahe immer lieblos (das das unwiderlegliche Schicksal meiner Schriften bei Suhrkamp) einfach in einem normalen Frühjahrsprogramm vorübergehen lassen will. Dieses Buch will ich ausgereift vorbereitet und als ein mir in vieler Hinsicht überwichtiges in einem Herbstprogramm »erscheinen« sehen, an erster Stelle. Und einmal möchte ich wirklich die ganze Obsorge und das ganze charakterliche Gewicht des Verlages auf mein Buch konzentriert sehen, was ich noch nicht erlebt habe, denn ausgezeichnetes, wirklich Gewichtiges im Hinblick auf den Absprung eines meiner »grösseren« Bücher in die gehirnkläffende scheussliche, mir auf die Nerven, aber nicht in die Nerven hineingehende Welt, habe ich bis jetzt noch nicht erlebt. Tatsächlich hat es keiner meiner sogenannten Romane bis heute auch nur zu einem Einzelinserat in einer der wichtigsten Zeitungen gebracht, beispielsweise, mir ist es zuwider, davon zu sprechen, aber es gibt unerlässliche Gründe, etwas auszusprechen. Nur dürfen Sie nicht vergessen, dass ich, obwohl weit entfernt, doch aufs Äusserste mit der Materie des Verlags, des Geschäftes und des gemachten Erfolges oder Mißerfolges vertraut bin, nicht länger gedenke [[ich]] mich einer doch nur liebenswürdigen Beiläufigkeit eines Apparates wie des Verlages in Frankfurt als ein Opfer der Routine zu empfinden. Entweder mein Buch zieht auf sich die grösstmögliche Konzentration im nächsten Herbst, oder es kommt ganz einfach nicht heraus. Mir fehlen zahmere Wörter.
Dieser Entschluss bedeutet die Verschiebung von »Erinnern« auf das Frühjahr 1974.2
In diesem Augenblick fällt mir ein, dass Sie im letzten Frühjahr auf einem Spaziergang die Eigenerfindung gehabt haben (eine recht liebenswürdige), einen Band zusammenzustellen, in welchem ein radikaler Schnitt durch meine literarischen Körper gezogen wird. Die Idee hat mein Interesse, meinen lauten Beifall gefunden. Dann habe ich nichts mehr gehört. Das Buch war für Frühjahr 73 geplant gewesen.
Zugleich fällt mir ein, dass ich Ihnen vor etwa drei Monaten den Vorschlag gemacht habe, über die Salzburger Vorfälle eine Dokumentation herauszubringen, mein Vorschlag ist klar und gründlich, wenn auch kurz formuliert gewesen, denn dass sich in Salzburg eine Ungeheuerlichkeit begeben hat, ist unbestreitbar. Es handelt sich um einen revolutionären Stoff, allerdings um einen solchen in unserer unmittelbarsten Umgebung, besser noch: in uns. Wenn Sie aber dieses Buch nicht machen wollen, so sagen Sie deutlich nein, aber ignorieren Sie nicht, was ich vorschlage. Die Ignoration muss ich verachten, gleich von welcher Seite. Ich kann mir vorstellen, dass Sie den Begriff der Undiplomatie vor Augen haben, wenn Sie daran denken, ein solches Buch zu machen. Aber sagen Sie dann wirklich: es ist (wäre) undiplomatisch. Zu schweigen in einem solchen Falle wirkt auf mich in Gedanken. Zu überflüssigen.
Das Thema Salzburg ist nicht erschöpft: wie kann der Verlag eine Neuauflage des »Ignoranten« machen mit allen vorherigen Druckfehlern, mit Druckfehlern, die entscheidend abstossend, sinnentstellend und das ganze Buch in Frage stellend, sind. Man hätte doch die Zeit haben müssen, mich nocheinmal etwa in Form eines Expressbriefes, einer telegrafischen gefährlichen Drohung etcetera, an das Zuschicken der Korrektur zu erinnern. Der Vorgang ist so haarsträubend, wie die Auflage abstossend für mich. Entschuldigt kann hier nichts werden.
Hier bin ich bei einem weiteren Punkt: es geht nicht, dass ich nicht verständigt bin, überhaupt nicht, wenn im »Spectaculum« ein Stück von mir abgedruckt wird, wenn auch aus dem eigenen Verlag, hier geschieht einfach etwas über meinen Kopf, der nicht alles widerspruchslos hinnimmt, was ein grösserer und kräftigerer und dadurch mächtigerer Apparat ohne zu fragen beschliesst. Und dieser »Boris« im »Spectaculum« strotzt vor neuerlichen Druckfehlern und ist wiederum nichts als abstossend.3
Aber ich muss überhaupt sagen, dass Rach mich in einer Weise enttäuscht, die nicht zu formulieren ist. Keinerlei Nachricht ist etwas, was ich mir nicht gestatten lassen darf, wenn es sich vor allem um Theater handelt. Aus dem Büro Rach kommt nichts, ausser ein paar nichtssagende Agenturmeldungen, dummen Rezensionsausschnitten. Beispiel: dummes Zeug aus Kleinblättern über die Berliner Aufführung, aber kein Wort aus der FAZ etcetera. Das Kaffeehaus ist meine Rettung. Wäre ich auf den Verlag angewiesen, müsste ich glauben, ich sei einer der erfolglosesten, gerade noch geduldeten Schriftsteller, das ist eine absurde Verzerrung.
Wozu existiert ein Büro, wie das von Rach, wenn ich nichts erfahre, was mich betrifft, nichts über Proben, Besetzung in Zürich, Wien, Berlin, München. Hier sind die Apparate sinnlose Apparate. Es wäre doch das Natürlichste, mich laufend über alles, was meine Theaterarbeit betrifft, zu unterrichten. Ich erfahre aus eigenem Hundertmal mehr, und Unumgängliches, als aus dem Verlag, von dem ich soviel wie nichts erfahre. Ich habe, was die Stücke betrifft, nicht den geringsten Rückhalt im Verlag. Dass die Theater meine Stücke spielen, ist, glaube ich, doch tatsächlich nur mein »Verdienst«, das muss ich leider offen sagen. Denn soviel ist mir klargeworden, im Suhrkampverlag habe ich keine Potenz, die für mich da ist, für mich eintritt, das Wort Zusammenarbeit ist ein Hohnwort. Anonyme Sekretärinnen schicken dumme Agenturmeldungen. Rach ist für mich Desinteresse, nichts sonst.
Von Hilde Spiel hörte ich gestern, dass Sie in mich gedrungen wären, den sogenannten Csokorpreis doch anzunehmen.4 Aber ich habe mit Ihnen niemals den geringsten Kontakt, diesen Preis betreffend, gehabt. Und Sie haben einen solchen Kontakt mit mir niemals aufgenommen gehabt. Was stimmt also?
Was mein neues Theaterstück, besser Schauspiel, betrifft, muss ich wohl wieder alles im Alleingang unternehmen. Dem Zufall und der Gleichgültigkeit ausliefern, will ich mich nicht mehr.
Diese Gedanken könnten fortgeführt werden, aber ich sehe heute keine Notwendigkeit dazu. Wenn wir miteinander reden könnten, wäre es das beste. Ich kenne keinen Menschen, der auf dem sogenannten Literaturmarkt zurückhaltender ist. Aber Sache des Verlags wäre es doch, das seine zu tun.
Darf ich Sie abschliessend um eine vollkommen genaue detaillierte Aufstellung meiner Verlagsfinanzen bitten und zwar innerhalb einer Woche, also sehr dringend, um alle Details der Geldbewegungen mich betreffend nach Darlehen und »Normales« getrennt, ab Salzburger Festspiele und Fernsehaufzeichnung des »Ignoranten«. Diese Papiere brauche ich im Grunde sofort.5
Mit herzlichen Grüßen Ihr
Thomas Bernhard
1 Der Brief von Th. B. trägt irrtümlich das Datum »18. 11. 72«; das Original im Verlagsarchiv trägt durch die Korrektur von 11 zu 10 das Datum »18. 10. 1972«.
2 Daraus wird dann der erste Band der autobiographischen Erzählungen Die Ursache. Eine Andeutung, der 1975 beim Salzburger Residenz Verlag erscheint. Siehe zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte den Kommentar zu Th. B.: Werke 10, S. 516ff.
3 Ein Fest für Boris erscheint in Spectaculum 17, S. 7-64.
4 Der nach dem österreichischen Schriftsteller Franz Theodor Csokor benannte und von Richard Weininger gestiftete Preis wird vom österreichischen PEN-Club, dessen Präsident Csokor von 1947-1969 war, verliehen. Th. B. erhält den mit 15 000 Schilling dotierten Preis für Der Ignorant und der Wahnsinnige. Die Überreichung findet am 16. Oktober in den Räumen des PEN-Clubs, in der Wiener Bankgasse 8, durch Piero Rismondo statt. Th. B. stiftet das Preisgeld der Häftlingsfürsorge in Stein (siehe die Darstellung der Preisübergabe durch Th. B. in Meine Preise, S. 93-101).
5 Im Nachlaß von Th. B. hat sich dazu unter dem Datum des »18. 11.« [das ist »18.10«] 1972 ein Briefentwurf erhalten, der eine Vorfassung zu diesem Brief darstellt:
»Lieber Herr Doktor Unseld,
die Fragen dieses Briefes bitte ich Sie, mir so bald als möglich zu beantworten, zu den Feststellungen, ehestmöglich Stellung zu nehmen. Zuerst bitte ich, innerhalb einer Woche, also sehr dringend, um eine genaue detaillierte Aufstellung meiner Finanzen nach den Salzburger Festspielen und der Fernsehaufzeichnung meines Stückes. Und zwar eine insgesamte Aufstellung aller mich betreffenden Geldbewegungen, geteilt in Darlehen und ›Normales‹.
Um bei dem Theater zu bleiben: ich empfinde den rücksichtslosen Nachdruck des ›Ignoranten‹ mit allen seinen Druckfehlern, diesen ganz und gar sinnentstellenden, entscheidenden, peinlichen, als ein nicht gerade zumutbares Vordenkopfstossen meiner Person. Wie kann passieren, was passiert ist? Eine neue Auflage zu machen im Bewusstsein, alle fürchterlichen Druckfehler aus der ersten alten Ausgabe zu übernehmen. Das zu kommentieren muss ich Sie selbst bitten. Aber was das Theater betrifft, habe ich im Verlag, wie ich von hier aus feststellen muss, nicht den geringsten Rückhalt, und es vollzieht sich alles in der bedenklichsten Weise ohne mich. Beispielsweise höre ich von den verschiedenen Vorbereitungen an den Bühnen in Zürich, München oder Wien vom Verlag überhaupt nichts, und das Natürlichste und tatsächlich zu fordernde wäre ja, dass ich doch laufend darüber, über die entscheidenden Vorgänge jedenfalls, Besetzungen, etcetera, unterrichtet werde. Nichts. Ich kann Herrn Rach sein Desinteresse an meiner Produktion und Person nicht verschweigen. Ich erfahre aus eigenem Hundertmal mehr, als aus dem Verlag, von dem ich soviel wie nichts erfahre. Bekomme ich irgendwann eine Nachricht, ist es eine unbedeutende, lächerliche, die ich längst weiss, und die die billigste ist. Von den Rezensionen werden mir die dümmsten Agenturmeldungen geschickt (siehe Berliner Aufführungen), keine einzige grössere, zum Beispiel aus der FAZ, die ich im Kaffeehaus finde. Wenn ich auf den Verlag angewiesen bin, was Rezensionen, Nachrichten etcetera betrifft, so bin ich doch auf dem Stand des erfolglosesten Schriftstellers gehalten. Ich kann beim besten Willen nicht sagen, dass für mich wirklich etwas getan wird, denn dass ein paar Bühnen, die ausserordentlichsten allerdings, mein Theater spielen, ist doch rein mein Verdienst, das müssen Sie sich leider offen sagen lassen und nicht das Verdienst des Verlags. Denn soviel sehe ich schon: dass ich im Verlag keine Potenz habe, die für mich da ist und eintreten kann, eintreten will nicht einmal und dass ich auch mit dem nächsten Stück den Alleingang machen muss. Wozu aber habe ich dann einen Verlag im ›Hintergrund‹? Ausser anonyme Sekretärinnen, die mir von Fall zu Fall lächerliche Zeitungsausschnitte schicken, auf die ich verzichten kann, höre und sehe ich nichts.
Rach ist sein Desinteresse an dem, was ich mache, auch ohne seine Post, in welcher kein klares, mutiges, oder auch nur sachliches Wort steht, abzulesen.
Und Sie selbst lassen monatelang auch nichts hören und beantworten nicht einmal entscheidende Fragen, wie die von mir vor beinahe drei Monaten an Sie gerichtete: eine Dokumentation zu machen über die Salzburger Vorfälle. Wenn Sie einen solchen Band nicht wollen, dann schreiben Sie es mir doch, aber ignorieren Sie meine Frage nicht.
Von Hilde Spiel hörte ich gestern, dass Sie ihr gesagt haben, Sie hätten mich zur Annahme des Csokorpreises überredet, die Wahrheit ist aber doch, dass wir über diesen Preis nicht ein einziges Wort verloren haben und ich Ihnen ja auch nichts von dem Preis geschrieben habe. Ob Sie darüber irgendwo gelesen haben, weiss ich nicht, nehme ich aber an. Also, haben Sie etwas zu Hilde Spiel gesagt? und was?
Zum Beispiel ist mein ›Boris‹ mit einer Menge neuer Druckfehler, in ›Spectaculum‹ abgedruckt, ich wusste nichts davon. Ich glaube, so geht das alles nicht, jedenfalls will ich alles das nicht so. Und es gäbe noch viel über die ganze Kopflosigkeit des Verlagsapparates zu sagen.
Ich möchte sagen, auf dieser Basis der Schlamperei und der Kopflosigkeit und der Gleichgültigkeit will ich nicht mit dem Verlag weitermachen. Meine Sache ist die Sache der Flüchtigkeit und der absoluten Ungenauigkeit und der Kopflosigkeit nicht.
Über alle diese, nicht gerade mit grösster Lust vorgebrachte Feststellungen wäre aber natürlich auch einmal zu reden, doch will ich selbst keinen Termin nennen und es liegt ganz an Ihnen, sich einmal zu treffen.«