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Ohlsdorf
22. 11. 72
BRIEF EINS
Lieber Doktor Unseld,
am letzten Dienstag ist es mir unmöglich gewesen, nach Salzburg zu fahren und Sie zu treffen, eine solche Begegnung ist überfällig aus allen Gründen und ich wünsche im Augenblick nichts mehr, als mit Ihnen aufundabgehend unklare Gedanken zu klären, Verwirrendes zu entwirren und das Selbstverständliche und das Notwendige im Hinblick auf unser beider Zukunft als Zusammenarbeit wieder einmal auf längere Zeit mit Offenheit, Ehrlichkeit und Bedachtsamkeit zu fixieren.
Die Unruhe und die Zweifel und der oft überraschend eintretende scheinbare Zerfall eines Verhältnisses schaden nicht, wenn dadurch zeitgemässere Gedanken ausgelöst, neue Geleise gelegt werden können. Auch sind wir, glaube ich, an einem Punkt angelangt, an welchem ein radikaler Strich zwischen Vergangenheit und Zukunft gezogen werden muss. Eine Vielzahl von absoluten Unwichtigkeiten im Detail, die das Konzept auf das widerwärtigste stören, gehören ausgeräumt, der Kleinlichkeit, Lächerlichkeit, gebührt keine Aufmerksamkeit.
Die grössere Linie ist zu deutlich, als dass ich mich von vergangenen Lästigkeiten, vielleicht auch Enttäuschungen (auf beiden Seiten), die aber alle nicht umwerfend sind, von jetzt an noch irritieren lasse und ich denke, das ist auch Ihr Gedanke und ich glaube der Aufenthalt auf den kleinen und kleinsten Stationen gehört gestrichen, damit unser Zug, wenn auch nicht mit der kopflosen Höchstgeschwindigkeit, so doch mit entsprechender und mit grösstmöglicher Sicherheit sein Ziel erreicht. Dieser Satz in Kenntnis der Tatsache, dass keinerlei Ziel erreichbar ist.
In diesem Brief gehe ich auf das einzige nennenswerte Problem, das zwischen uns existiert, das Finanzproblem, nicht ein, das Finanzproblem ist Inhalt von Brief zwei, der diesem Brief eins angeschlossen ist, diese Zeilen müssen, will ich, von dem Finanzproblem getrennt sein. Es ist aber notwendig, dass das Thema Finanzen jedenfalls wieder auf zwei Jahre endgültig gelöst ist und ich hoffe, noch in diesem Jahr.
Über allen Tatsachen dürfen wir nicht vergessen, dass es doch solche sind, die letztenendes zu fundamentaler Erschütterung keinerlei Anlass sind.
In Brief zwei mache ich Ihnen einen, wie ich nach reiflicher Überlegung glaube, nicht mehr durch den juristischen Satz vom »besten Wissen und Gewissen« zu beschwerenden für uns beide akzeptablen Vorschlag 3, nachdem ich mich mit Ihren beiden Vorschlägen eins und zwei vom 3. November nicht einverstanden erklären kann, denn diese Vorschläge sind tatsächlich, wenn auch nicht in unguter Absicht, das ist selbstverständlich, in Unkenntnis meiner Person gemacht. Aber es dürfte klar sein, dass ich ein Gegner von Rentenempfang und von Leibeigenschaft bin. Sie kennen mich zu gut als kämpferischen Individualisten. Die Freiheit meiner Person muss unangetastet bleiben und eine Bindung kann nur eine solche sein, die meine Existenz und also meine Arbeit fördert, nicht eine solche, die meine Existenz und Arbeit einschränkt, ja lähmt. Das ist klar.
Ich lese jetzt viel im Voltaire.
Darf ich Sie, weil dieser Anlass zu bedeutend ist, um ihn, wie die meisten andern, neunundneunzig Prozent also, zu übergehen, zu dieser Wahl der Deutschen am Wochenende beglückwünschen. Es kommt mir vor, als habe dieses für uns alle so wichtige, aber am Ende, wie wir wissen, immer für das ganze darauf ausgerichtete Europa in so unglücklich katastrophalem Masse schädliche Land, an diesem Wochenende endlich als ein neues, erfreuliches, Geburtstag gehabt. Dieser Geburtstag Ihres neuen Landes freut mich, macht mich glücklich!1
Bitte wenden Sie jetzt Ihre ganze Aufmerksamkeit dem Brief zwei zu und kommentieren Sie mir meinen Vorschlag so bald es Ihnen möglich ist.
Herzlich Ihr
Thomas Bernhard
1 Die vorgezogene Bundestagswahl am 19. November 1972 endet mit einem Sieg für die SPD unter dem Bundeskanzler Willy Brandt; die SPD wird erstmals stärkste Bundestagsfraktion.