[44; Anschrift: 〈Wien〉]
Frankfurt am Main
18. März 1968
Lieber Herr Bernhard,
Frau Botond hat mich am vergangenen Wochenende angerufen und mir von dem Wiener Skandal berichtet. Sie wissen ja, mein Herz schlägt ganz für Sie, und ich konnte mir die Situation gut vorstellen. Das haben auch andere Autoren durchstehen müssen, Frisch, als er einmal die Schweiz kritisierte, Enzensberger, als er in Nürnberg einen Preis annahm und in der Laudatio verkündete, daß er das Geld denjenigen Leuten zur Verfügung stellen wolle, die bei den Gerichten der Bundesrepublik nicht zu ihrem Recht kommen.1
Nun habe ich heute Ihren Brief und den Text der Rede bekommen. Ich möchte Ihnen hierzu ganz offen schreiben. Sie erwarten ja von mir keine taktische Antwort, sondern mit Fug und Recht wollen Sie von mir hören, daß ich Sie in dieser schwierigen Lage unterstütze. Das tue ich auch und tue es gerne, aber, lieber Herr Bernhard, in anderem Sinne, als Sie erwarten. Ich möchte nämlich dafür plädieren, daß wir zunächst überhaupt keine Notiz von der Sache nehmen. Wenn Sie können, ziehen Sie am besten auch noch den Abdruck in der »Weltwoche« zurück.2 Wir, die wir Sie kennen, finden diese Rede natürlich nicht skandalös, aber all die Leute, die Sie nicht kennen, die Ihre Bücher nicht gelesen haben, müssen, abermals mit Fug und Recht, Anstoß daran nehmen, und ich gehe sogar soweit, lieber Herr Bernhard, daß Sie ganz befangen und gebannt in Ihren Vorstellungen selber die Wirkung Ihrer Worte nicht abschätzen können. Sie haben in dieser Rede nicht Kritik geübt, sondern Sie haben sehr pauschal einem Land Sinn und Zukunft abgesprochen. Wie gesagt, das haben auch andere Autoren getan. Frisch hat einmal einen Vortrag über die Schweiz gehalten mit der Überschrift »Land ohne Zukunft«, aber, lieber Herr Bernhard, das lag alles in der Ebene der Kritik und der möglichen Änderungen. Bei Ihnen sieht alles definitiv, endgültig aus, und gegen Sätze wie »Wir sind auch nichts und wir verdienen nichts als das Chaos« müssen sich die Angesprochenen und Nichtangesprochenen Ihrer Landsleute wehren.3 Und Sie, lieber Herr Bernhard, müssen einsehen und diese Reaktion ertragen können. Das ist schwer, und ich sehe, wie empfindlich Sie nun Ihrerseits reagieren. Wenn Ihnen die Leute keine Feier zubereiten wollen, dann pfeifen Sie doch darauf, darauf kommt es nicht an. Und fast müssen Sie Verständnis für diese Leute haben. Was sollen sie eigentlich tun? Sie haben sie nicht nur provoziert, sondern sie fühlen sich von Ihnen in ein Nichts gestellt. Von wo aus fordern Sie dann noch, sie sollten für Sie eine Feier zubereiten? Ich würde das gar nicht verlangen. Ich sehe nur eine einzige mögliche Reaktion, und die ist die einer Akzeptierung dessen, was geschah. Das moralische Recht für Ihre Rede ist ganz auf Ihrer Seite, und ich stehe hier hinter Ihnen. Sie sollen aber nicht verkennen, daß Sie mit Ihrer Rede Gefühle anderer verletzt haben.
Wie gesagt, das, was Sie gesagt haben, ist für uns Bernhard-Kenner und -Freunde nicht neu, nicht aufregend. Aber der Kreis, der Sie kennt, ist klein. Für mich ist das, was Ihnen eben jetzt zugestoßen ist, abermals höchst kennzeichnend und bereichert meine bisherige Erfahrung: der Schriftsteller ist nicht da, um zu reden und Thesen von sich zu geben, sondern um das, was er sagen will, in einem Werkzusammenhang zu sagen. Hier steht es dann nicht isoliert da, sondern in dem Gesamtzusammenhang eines Denkens und eines Bewußtseins, und dann ist es richtiger, stimmiger und provoziert nichts Äußeres, sondern Inneres.
Also, seien Sie stark, ziehen Sie sich auf sich selbst zurück, schreiben Sie das Buch. Alles andere ist unwichtig.4
Herzlich,
Ihr
Siegfried Unseld
1 Hans Magnus Enzensberger wird am 16. März 1967 der Nürnberger Literaturpreis verliehen. Er gibt seiner Dankrede den Titel Rede vom Heizer Hieronymus. Dieser Heizer, so fragt Enzensberger in Erinnerung an seine Kindheit in Nürnberg: »Hieß er wirklich Hieronymus, sein Vor- oder sein Zuname? Warum ist er verschwunden? Wann? War es 1935? 1937? Wurde er abgeholt? Was bedeutet das Wort ›Zelle‹, das irgend jemand fallenließ, als die Wohnung des Heizers leerstand. [. . .] Und der Rechtsanwalt Hannover aus Bremen schreibt mir: ›Jährlich gibt es in der Bundesrepublik mindestens zehntausend Ermittlungsverfahren gegen politische Gesinnungstäter.‹ Daraus schließe ich: Der Heizer Hieronymus ist nicht spurlos verschwunden. Er ist wieder da, in anderen Kellern, unter anderem Namen [. . .]. Mit der Summe, die den Preis begleitet [6 000 DM], wird das Postscheckkonto 1312 eröffnet. [. . .] Unterstützt werden Leute, die wegen ihrer politischen Gesinnung in der Bundesrepublik vor Gericht gestellt worden sind, auch die Angehörigen der Verurteilten.« Darauf kommt im Bundestag der »Fall Enzensberger« am 13. April zur Sprache, in der Süddeutschen Zeitung polemisiert im selben Monat Günther Nollau, Vizepräsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, gegen Enzensberger. (Dokumentiert sind Rede und Debatte in Enzensberger: Staatsgefährdende Umtriebe.)
2 In einem Artikel der Weltwoche vom 22. März 1968 unter dem Titel Dank und Undank des Thomas Bernhard. Trauerspiel um eine österreichische Rede wird die Rede von Th. B. gedruckt und über die Preisverleihung in einem Tenor berichtet, der dem des Briefes von Th. B. an S. U. entspricht.
3 Der vorletzte Satz der Rede zum Staatspreis lautet vollständig: »Wir brauchen uns nicht zu schämen, aber wir sind auch nichts und wir verdienen nichts als das Chaos.« (Th. B.: Meine Preise, S. 122)
4 In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. März 1968 erscheint ein Artikel von Karl Heinz Bohrer unter der Überschrift Des Dichters Fluch. Er enthält die vollständige Rede von Th. B. zum Staatspreis und ist in Kenntnis des Briefes von Th. B. an S. U. geschrieben – was Sätze belegen wie »Der Preisträger wurde mit ›Dutschke‹ und ›Hundertwasser‹ tituliert.« Abschließend urteilt Bohrer: »Wie weit – so stellt sich die Frage – ist dem Poeten die vielzitierte Narrenfreiheit gestattet? [. . .] In diesem besonderen Fall wird die Reaktion um so widersprüchlicher, als Bernhard keine eigentlich politische Rede gehalten hat, sondern eher sein existentielles Manifest, seine österreichische Trauer, seinen Umgang mit dem Tode Zuhörern zumutete, die sich offensichtlich auf das Buffet freuten.«