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[Ohlsdorf]
2. 7. 74
Lieber Siegfried Unseld,
diese folgenden Zeilen sind eine Andeutung meiner augenblicklichen Lebensweise.
Vor drei Wochen habe ich mich in bester Stimmung mit dem Teewasser derartig (dritten Grades, so der Kommentar meiner Ärztin) verbrüht, dass an eine Weiterarbeit nicht mehr zu denken gewesen ist; ich benützte die Gelegenheit und fuhr und flog in die Gegend. Auf dem Rückweg schaute ich mit meiner offenen Gespensterhand in das Schillertheater hinein. Ich sah nichts Schlechtes.1 Da die Luft gut für Heilung ist, bin ich jetzt so weit, dass ich das Abtippen der »Korrektur« fortsetzen kann. Diese ganze Verbrühung mit ihren für mich also gar nicht üblen, sogar notwendigen Auswirkungen, kühler Norden, neue Menschen, Turbulenz, absolutes Gehenlassen in guten Hotels ist meinem Kopf so gut bekommen, dass ich von Glück reden kann. Wenn ich Ihnen sage, dass ich an dem Tag, genau in der Stunde, in welcher ich mich verbrüht habe, ein Termintelegramm bekommen habe aus Wien für ein sogenanntes Statement über Ingeborg Bachmann, glauben Sie an den zaghaften Aufbau einer Komödie. Die Welt ist als Kuriosum eingerichtet und von lauter verderblichen Gegenständen bevölkert.2
Mit dieser Bemerkung Schluss in dem Gegenstand. Es heisst also jetzt für mich, die Arbeit weiterzumachen und sie ist fertig, wann sie fertig ist, mehr kann ich nicht sagen, die Chronologie ist aber abzusehen. Ich fühle nichts in meinem Rücken.
3 Punkte noch: nach den Angriffen, die Klingenberg in Wien parieren hat müssen und den nicht gerade schmeichelhaften Kritiken der lieben Wiener,3 habe ich Klingenberg den Vorschlag gemacht, dass wir den Vertrag für das nächste Stück liquidieren, also ich habe ihm die Tür aufgemacht und gesagt, er muss nichts mehr spielen und kann von mir (und uns) aus, ungeschoren gehn. Das tut er nicht, im Gegenteil, schrieb er mir einen nicht unbedeutenden Brief, in welchem er mir versichert, dass es kein Wenn und Aber, sondern nur die Uraufführung am Burgtheater im kommenden Frühjahr geben wird. Er bekommt also mein nächstes Stück (zu treuen Händen). Er versicherte mir, dass ich alle Wünsche anmelden kann und alle diese Wünsche werden von ihm aus (vom Burgtheater) erfüllt. Der Grossteil des Burgtheaters ist gegen mich und gegen das, was ich mache, das ist gerade ein hervorragendes Fundament. Dass ich Klingenberg mit der Bemerkung (»Der Verlag fügt sich sicher meiner Entscheidung!«) aus unserem Geheimvertrag habe entlassen wollen, er uns aber nicht entlässt, ist eine gute Position, sie kann nicht besser sein, darüber froh zu sein ist keine Kunst.
2. Punkt: gestern habe ich in Salzburg die Schauspieler gesehen, zum erstenmal im Kostüm und zum erstenmal auf dem Wohnwagen.4 Mein Eindruck von allen war, ohne dass das Spiel schon begonnen hätte, so, dass ich denke, aus diesen Instrumenten könnte etwas ganz herrliches werden. Das sehen wir dann ja Ende Juli, darauf freue ich mich und wie Sie sich denken können, auf die Wiederbegegnung mit meinem Verleger.
Punkt 3 betrifft einen Brief von Peter Hall aus London, der vorgestern angekommen ist und in welchem mich Hall (inständig) bittet, dass er »Die Macht der Gewohnheit« im nächsten Jahr neueröffneten National-Theater selbst inszenieren kann, der Verlag gibt ihm die Rechte nicht, wie er schreibt und handelt korrekt. Hall will das Stück in dem dritten neuen Nationaltheater, das vierhundert Plätze hat, aufführen und der Gedanke ist doch herrlich, weil durch Hall ein englisches Kabinettstück herauskommen könnte. Eine solche englische Aufführung stört unsere Reisetruppe nicht und bringt uns wahrscheinlich Glück. Ich wollte keine Entscheidung ohne Sie. Ich bitte Sie aber, dass wir Hall das Stück geben und dass Sie Hall (persönlich) telegrafieren, dass ich nichts dagegen habe.5
Es gibt noch mehrere Punkte, aber besser ist, ich schreibe, dass der Sommer genau die Zeit ist, in welcher die Möglichkeiten, an vielen, vielen Stunden die Arbeit liegen zu lassen und baden (Ihre Lieblingsbeschäftigung!) zu gehen oder im Schatten zu liegen ohne Gedanken an Kunst etcetera, an die Verstümmelung der Natur durch den Übereifer des Menschenunrates. Wie die Dinge liegen, müssen sie liegen. Und schreiben Sie mir keinen ernsten Brief, sonst verfluche ich alle Deutsche!
Herzlich Ihr
Thomas B.
P. S.: Schade, dass ich mit Ihnen nicht zu Anja Silja habe gehen können, aber ich habe die »Erwartung« schon einmal (in Darmstadt) gehört. Vor achtzehn oder neunzehn Jahren, wer weiss!6
1 Th. B. besucht wahrscheinlich eine Aufführung der Jagdgesellschaft, deren Erstaufführung in Deutschland am 15. Mai 1974 in der Regie von Dieter Dorn (Bühnenbild: Wilfried Minks, Generalin: Marianne Hoppe, Schriftsteller: Rolf Boysen, General: Bernhard Minetti) am Berliner Schiller-Theater stattfindet.
2 Ingeborg Bachmann stirbt ein Jahr zuvor an den Folgen eines Brandunfalls.
3 Die Wiener Wochenpresse vom 29. Mai 1974 berichtet: »Jene ›Leute, die in der Pause weggehen‹, werden von den geschockten Billeteuren nämlich keineswegs als Einzelerscheinungen geschildert, sondern auf ›einige Hundert‹ oder ein ›Drittel der Besucher‹ geschätzt. [. . .] Die Borkenkäfer [. . .] haben zwar des Burgtheaters Stammgäste kräftig gebissen, daß der neue Bernhard jedoch ein Stück ist, das vom Burgtheater zur Diskussion gestellt werden mußte [. . .], wollen auch Burgchef Gerhard Klingenbergs erbittertste Gegner im eigenen Haus keineswegs bestreiten.« (D[uglore]. P[izzini]: Vom Käfer gebissen. Publikumsflucht bei »Die Jagdgesellschaft« von Thomas Bernhard)
4 Die Macht der Gewohnheit spielt in einem Wohnwagen.
5 Rudolf Rach schreibt Th. B. dazu in seinem Brief vom 4. Juli 1974:
»Sie werden in der Zwischenzeit den Brief von Peter Hall erhalten haben, in dem er sein Interesse an der ›Macht der Gewohnheit‹ kundtut. Das von ihm vorgeschlagene Verfahren, zuerst einen Regisseur zu benennen, ist natürlich das einzig richtige, für den Fall, daß Sie überhaupt einer Aufführung zustimmen wollen. Natürlich denke ich auch immer noch an die Möglichkeit eines Gastspiels, aber beides brauchte sich nicht auszuschließen, da ich aus London höre, daß man eine Produktion der ›Macht der Gewohnheit‹ für das Frühjahr 1976 plant.«6 Unterhalb des Postskriptums findet sich die handschriftliche Erläuterung von Th. B.: »alles mit rechter Hand!«, wobei er das »rechter« nochmals in Versalien wiederholt.
Rechts oben auf der ersten Seite des Briefes notiert S. U.: »bei meinem Besuch bespr[echen].«.