[503; Anschrift: Hotel Tivoli, Sintra]
Frankfurt am Main
10. Februar 1987
Lieber Thomas Bernhard,
alles war großartig, das Gesprochene und Nichtgesprochene, Brot und Wein, Park und Meer, Sonne und Regen. Dieses portugiesische Wochenende werde ich nicht so leicht vergessen.
Wir halten fest: Spätestens am 15. April 1987 sehen wir uns irgendwo. Sie wollten mir dann die Manuskripte »Neufundland« und »Die Schwerhörigen« übergeben und Ihr Konto bewegen.1
Auf Ihre Frage zu »In hora mortis« konnte ich Ihnen nicht antworten; ich wähnte das Manuskript in Satz, aber wie aus dem hier anliegenden Brief von Elisabeth Borchers vom 21. Januar hervorgeht, wartete sie noch auf eine Antwort von Ihnen. Leider hat dieser Brief Sie zu Hause nicht mehr erreicht. Ich füge außerdem eine Kopie des Briefes vom Otto Müller Verlag vom 14. Januar bei.
Zum Komplex und Problem »Der Zweifel«: Natürlich nagt mein eigener Vorschlag in mir, aber die Vernunft bestätigt ihn auch noch im nachhinein. Doch möchte ich Sie herzlich bitten, fortiter nicht nur in re, sondern auch in modo zu sein. Drei klare Bedingungen knüpfen Sie an die Übergabe:
- Ein nicht-exklusives Veröffentlichungsrecht für drei Jahre;
- Keinerlei Nebenrechte, insbesondere keine Übersetzungsrechte;
- Der Verlag bestätigt definitiv die von Ihnen schon immer geforderte Rückgabe der Rechte für die fünf autobiographischen Prosastücke.2
An die Gedichte wird gedacht. Die Taschenbücher werden in Ruhe für 1988ff. vorbereitet.
Ich denke gerne ans TIVOLI wie an die SETEAIS zurück und weiß Sie in dieser Umgebung produktiv aufgehoben.3
Mit herzlichen Grüßen und Wünschen
Ihr
Siegfried Unseld
Anlagen4
1 Zur Fertigstellung des geplanten Romans Neufundland und des Theaterstücks Die Schwerhörigen kommt es nicht mehr – nicht zuletzt aufgrund des prekären Gesundheitszustands von Th. B. Von beiden geplanten Werken haben sich Typoskripte bzw. Typoskriptfragmente im Nachlaß erhalten; während vom Roman nur einige Entwurfsblätter vorliegen, existiert vom Theaterstück eine sehr weit gediehene Fassung.
2 Der Zweifel soll unter den genannten Bedingungen dem Residenz Verlag als sechster und letzter Band der Autobiographie überlassen werden, in der Folge sollen dann die Rechte am gesamten Werk von Th. B. im Suhrkamp Verlag versammelt werden; zur Verwirklichung dieses Projekts kommt es nicht. Siehe Kommentar zu Th. B.: Werke 10, S. 524f.
3 In seiner Chronik schreibt S. U. unter dem Datum des 7. bis 9. Februar:
»Besuch bei Thomas Bernhard in Lissabon bzw. Sintra.
Ein veränderter Thomas Bernhard. Einerseits etwas beängstigend dünn geworden, andererseits in glänzendster Laune. Kaum im Hotel eingetroffen, steht er da und ist noch nach Mitternacht kaum in der Bar des Hotels von seinem Kaffee zu trennen. Am Sonntag besuche ich ihn in Sintra, einem Ort, der wegen seines ungewöhnlich milden Klimas, seiner herrlichen Gärten und seiner üppigen Vegetation Könige und Adel zum Sommersitz verleitete. Inmitten von Sintra der Paseo Real de Sintra mit seinem schönen Schwanen- und Elster-Saal. Aus der Küche ragen zwei konische Küchenschornsteine, die inzwischen zum Wahrzeichen Sintras geworden sind. Bernhard wohnt im Hotel Tivoli, 7. Stock, schönes Zimmer. Wohl aufgeräumt. Auf einem kleinen Tisch Fotos seines Lebensmenschen.
Wir sitzen auf einer riesigen Terrasse, die sich an sein Zimmer anschließt; hier läßt sich in der Tat gut arbeiten.
Mit einem Wagen fahren wir zehn Stunden durch die Gegend, in die Serra de Sintra mit dem Castello dos Mouros.
Bernhard war noch nie im Staatspark von Monserrate, in dem Gewächse aus fast allen Vegetationszonen der Erde zu sehen sind. Man kann dort leben in Quinta de Penha Verde und in dem Palacio de Seteais, einem 5-Sterne-Hotel mit dem bezeichnenden Namen ›Sieben Seufzer‹.
Wir fahren nach Cabo da Rocca. Es ist der westlichste Punkt des europäischen Festlandes. Ein 150 m hoher und steil ins Meer abfallender Fels der Serra de Sintra. Dann an der Küste entlang: Praia do Guincho und an die Boca do Inferno, zur Costa dol Sol. In dem Fischerort Cascais begrüßt Bernhard mitten im Verkehrsgedränge eine alte Frau, die Kramdinge verkauft. Schließlich trinken wir Tee in Estoril, früher wohl das eleganteste und mondänste Seebad Portugals. Nirgendwo in Europa soll es ein milderes Klima geben als hier. Die Blumen blühen zweimal im Jahr.
Abends Verkehrsstau, weil alles nach Lissabon zurück will. Bernhard regt noch einmal ein Abendessen an, und wieder wird es spät.
Montag, 9. Februar: Bernhards 56. Geburtstag. Meinen Seidenschal nimmt er gerne als Geschenk entgegen und trägt ihn den ganzen Vormittag.
Wir sprechen die konkreten Punkte durch, das Prosa-Manuskript ›Neufundland‹, das Theaterstück ›Die Schwerhörigen‹, den autobiographischen Bericht ›Der Zweifel‹. Ich habe das im Reisebericht festgehalten.
Mittagessen im Palacio de Seteais, eine wirkliche Bernhard-Inszenierung: in dem alten, schön ausgestatteten Hotel ein riesiger Speisesaal, die Tische sind mit hochragenden Servietten garniert, alles schön und edel. Wir sind die einzigen Gäste, erst später gesellt sich noch ein Herr dazu, der wie Dürrenmatt aussieht. Die Ober unbeschäftigt, stehen herum, jede Bewegung am Tisch wird beobachtet, kaum hat man einen Schluck Wein oder Wasser getrunken, wird nachgefüllt. Bernhard scheint es zu genießen. Er bedauerte es, als die Stunde des Abflugs schlug.«
In dem in der Chronik angesprochenen Reisebericht Lissabon, 7.-9. Februar 1987 hält S. U. vor allem die mit Th. B. besprochenen Veröffentlichungspläne fest:
»Je weiter man fährt, um ihn zu treffen, desto enger fühlt er sich doch Verlag und Verleger verbunden. Alles, aber auch alles geht nach dem Wunsch der Vernunft.
Das Prosa-Manuskript ›Neufundland‹, im Umfang von ›Holzfällen‹, ist fertig, wird von ihm nach der Rückkehr noch einmal durchgesehen; ich erhalte es am 15. April, also noch so rechtzeitig, um es bei der Vertretersitzung am 22. April vorstellen zu können.
Das Theaterstück ›Die Schwerhörigen‹ werde ich zum selben Zeitpunkt erhalten. Erscheinungstermin in der Bibliothek Suhrkamp Oktober / November 1987, rechtzeitig zur Aufführung des Stückes an der Burg. [Am 20. Februar teilt Th. B. allerdings Burgel Zeeh in einem Telefonat mit, Claus Peymann werde in Wien nicht Die Schwerhörigen, sondern Elisabeth II. aufführen, das auch in der Bibliothek Suhrkamp erscheinen soll.]
Kürzerer ›autobiographischer Bericht‹ ›Der Zweifel‹: Thomas Bernhard hatte vor zwei Jahren, als Herr Schaffler erkrankt war und Frau Schaffler ihm, Bernhard, erklärte, ein letztes Buch bei Residenz sei lebensrettend, für Schaffler zugesagt, noch einmal ein Buch dem Residenz Verlag zu geben. Inzwischen ist aber Schaffler ausgeschieden, und der Residenz Verlag ist ein Bundes-Verlag geworden. Er fühlt sich an sein Versprechen nicht mehr gebunden, andererseits gibt es da noch einige heikle Verbindungen. Ich schlug von mir aus folgendes vor:
Er, Bernhard, solle Schaffler als ›Vermittler‹ einschalten. Der Residenz Verlag bekommt dieses neue Manuskript noch einmal, noch ein letztes Mal, jedoch unter folgenden Bedingungen:
1.Er erhält ein nicht-exklusives Recht für drei Jahre; danach fällt es totaliter an Thomas Bernhard zurück und wird nicht mehr im Verzeichnis Residenz geführt;
2.Keine Nebenrechte, auch keine Übersetzungsrechte;
3.Für diese Übergabe fallen die Rechte an den fünf autobiographischen Bänden an Bernhard zurück.
Geht der Residenz Verlag auf diese drei Bedingungen nicht ein, wird er den autobiographischen Bericht ›Der Zweifel‹ nicht erhalten.
›In hora mortis‹: Bernhard wartet dringlich auf die Ausgabe in der Insel-Bücherei.
Er wäre jetzt auch einverstanden mit einer Sammlung seiner ›Gedichte‹.
Und dann das Unternehmen des Bernhard-Jahres im Taschenbuch. Soll ich mich den Taschenbüchern ergeben? fragte er mich, als ich am Tag zuvor das Unternehmen unterbreitete. Ich meinte, die Vernunft gebiete es, und er war einverstanden. Wir können verfahren, wie wir wollen, auf der Linie des skizzierten Vorschlages. [Die ersten Bände der 24bändigen Taschenbuchausgabe der Werke von Th. B. erscheinen im November; siehe Anm. 1 zu Brief 514.]
Zur Hochstimmung trug sicherlich auch der Stand des Kontos bei, vielleicht auch eine neugewonnene Beziehung zur Familie, zum Bruder, zur Schwester und vor allem zur Tochter der Schwester, die von ihm zum Besuch nach Sintra eingeladen sind.
Grüße an alle. Käse war zu Burgel Zeeh zu rollen.«4 Bei den beiden Anlagen handelt es sich um einen Brief von Elisabeth Borchers an Th. B. und einen Brief des Otto Müller-Verlags, Salzburg. Der Brief des österreichischen Verlags, in dem er einer Auswahl von Gedichten Christine Lavants, Herausgeber Th. B., für die Bibliothek Suhrkamp zustimmt, hat sich im Nachlaß von Th. B. nicht erhalten.
Elisabeth Borchers schreibt an Th. B. unter dem Datum des 21. Januar 1987 (an die Ohlsdorfer Anschrift):
»Lieber Thomas Bernhard,
es gibt zwei Anlässe, Ihnen zu schreiben; das freut mich.
Lesen Sie bitte den Brief aus Salzburg. So sieht man Leute zu Kreuze kriechen … Bleibt es bei Ihrer Lavant-Zusage?
Bitte, ja.
Und: ›In hora mortis‹ wird also, wie wir’s in Bonn besprochen hatten, im Herbst als Band der Insel-Bücherei erscheinen.
Um 38 Seiten zu erreichen (der Umfang vom ›Cornet‹!), sollten wir die römischen Ziffern als Zwischentitel auf eine rechte Seite stellen, die folgende vakat.
In Bonn waren wir auch übereingekommen, daß das Buch eine Widmung haben sollte. Später las ich – nach einem Gespräch zwischen Ihnen und dem Verleger – in einer Notiz: daß dieser Band ohne die Widmung der Erstausgabe erscheinen soll. Ich habe den Text des Bandes vor mir: Keinerlei Widmung; nur ein Leonardo-Motto. Sagen Sie mir ein Wort dazu?
Ich grüße Sie, sehr.
Ihre
Elisabeth Borchers«
Th. B. antwortet am 3. März 1987 auf dem Briefpapier des Hotel Tivoli, Sintra:
»Liebe Elisabeth Borchers,
am liebsten ginge ich so in drei Stunden mit Ihnen von hier aus durch die Alleen hinunter in mein geliebtes Gasthaus zu meinem ebenso geliebten Espada, dem madairensischen Schwertfisch, um über Gedichte zu reden; ich denke, die Eukalyptusbäume fördern solche Wünsche, Absichten und lyrischen Verbrechen im Höchstmaß. Aber wenn ich bei meinem Gang an Sie denke, hat es ja schon den notwendigen höheren Reiz als im absoluten Alleinsein.
Vielleicht können wir in Frankfurt in einem abgeschlossenen Winkel mit dem absoluten Blick auf Alles und Jedes unser Spiel treiben? Ich will die Lavantgedichte aussuchen und freue mich ganz und gar insgeheim auf den Schmalband für glückliche Trauertage im Herbst. Ohne Widmung, nur mit Leonardo!
Der Briefkopf von Müller hat mich natürlich gleich um weit über dreissig Jahre zurück versetzt, aber das schadet ja nicht, sondern kann auch zu produktiver Melancholie verhelfen.
Hier habe ich ein Stück ›Elisabeth II.‹ geschrieben, das ich gestern mittag, bei fünfundzwanzig Grad im Freien sitzend, vor dem alten Hotel Central, mit Peymanns Höhenflügen zusammen gleich besetzt habe. Wir waren in bester Stimmung. Ihre Zeilen machen deutlich, wie vernachlässigt gleichmäßig gute und kostbare Beziehungen oft sein müssen, wenn die, die davon zehren wie ich, nicht schreiben.
In besten Gedanken
Thomas B.«
Am 13. April sendet Th. B. seine Auswahl der Gedichte von Christine Lavant und bemerkt in einem Begleitbrief: »Unsere Dichterin [Christine Lavant] ist eine der wichtigsten und sie verdient, in der ganzen Welt bekannt gemacht zu werden.
Das melancholisch machende, geistlose und weltferne und -fremde Kärnten hat auf die beiden lyrischen Geschwister Bachmann und Lavant einen unseligen Andalusien-Effekt ausgeübt, das geisttötende, dumpf-machende Andalusien mit seiner menschenvernichtenden Natur hat auf die spanische Literatur genauso gewirkt, wie das ebenso geisttötende, dumpf-machende, menschenvernichtende Kärnten auf die deutsche.
Aus diesem fürchterlichen geistlosen Kärnten sind die Sehnsuchtsgedichte unserer beiden Lyrikerinnen entstanden.
Was die Lavant betrifft, so liegt zwischen absoluten Höhepunkten ihrer Erfindungen und also Höhepunkten der deutschen Lyrik, unglaublich viel Kitsch-Müll; Leerlauf-Gott und Massen-Mohn überschwemmen die Seiten der im Müller-Verlag veröffentlichten Bücher. Die Gedichte in ›Kunst wie meine …‹ sind fast alle abstossend.
Die katholisch-verlogene Strickweise ist kaum auszuhalten. Nachdem ich die scheusslichen Briefe, die schauerlich infantile sentimentale Prosa, die mehr Heuchelei als Notwendigkeit sind, vergessen habe, das Volkstümelnde und das kindisch-religiös-Verlogene, entstand in diesen Tagen bei Schneetreiben und Regen am Ende doch das Buch einer ganz und gar bedeutenden, wie gesagt wird, grossen Dichterin.
Der liebe Gott möge mir verzeihen, dass ich ihn so viel als möglich aus den vier Büchern [Die Bettlerschale, Spindel im Mond, Der Pfauenschrei und Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben] verjagt habe. Immerhin treibt er auch in meiner Auswahl noch sein Unwesen.
Die Lavant war eine völlig ungeistige, sehr gescheite, durchtriebene. Sie wohnte auf der Betondecke eines Supermarktes an einer Strassenkreuzung in Wolfsberg mit einer Riesentankstelle und tippte ihre Gedichte gleich in die Maschine. Das ist für mich grossartiger, als das verlogene Weltfremdmärchen mit katholischer Talschlussromantik, das gottbefohlene, das um sie bis heute immer verbreitet worden ist.
Ludwig von Ficker, der die horrende Wittgensteinsumme an Trakl, Rilke und Konsorten verteilt hat, verbreitete vor allem dieses lyrische Schauermärchen bis zu seinem Tod mit grösster sentimentalkatholischer Vehemenz […].«