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Ohlsdorf
19. 8. 72
Lieber Doktor Unseld,
hier vergeht kein Tag, an welchem nicht, vierzehn Tage nach dem Salzburger Zwischenfall, zum Teil in Leitartikeln auf den ersten Seiten diese ganze schauerliche Provinzpresse von Österreich ihren faulen Bottich voll Gemeinheit und Niedertracht, Heuchelei und Erbärmlichkeit über mich und meine Schauspieler und Peymann ausschüttet; was mir vor Augen und in die Ohren kommt, sammle ich und so entsteht langsam eine infame Geistesgeschichte des österreichischen nationalen katholisch-nazistischen Stumpfsinns. Ganz einfach der Hass gegen die Bewegung in der Natur, um es kurz zu fassen, hat aufeinmal ein Ventil. Tatsächlich ist dieser Vorgang als Beispiel für andere, unterdrückte, ein ungeheuerlicher und nicht einfach hinzunehmen.
Ich möchte Sie bitten, von einem jungen Mann eine Dokumentation aus allen diesen Merkwürdigkeiten in der Presse machen und gut kommentiert, in einer Ihrer Taschenbuchreihen erscheinen zu lassen.
Diese Woche wird die Aufzeichnung in Salzburg gemacht. Peymann und die Schauspieler habe ich mit dem besten Anwalt in diesem Land in Verbindung gebracht, der schon arbeitet und klug ist: Dr. Michael Stern in Wien.1
Wenn es notwendig ist, werde ich natürlich sofort zu der ganzen Sache wieder Stellung beziehen, im Augenblick habe ich aber alles Wichtige gesagt und bin nicht von dem Vorgang irritiert, was meine Arbeit betrifft.
Hesses »Eigensinn«2 ist mir in unserer verlogenen Zeit eine durch und durch nützliche Lektüre.3
Herzlich Ihr
Thomas B.
1 Karl Ignaz Hennetmair schickt am 17. August S. U. einen Brief von ihm an Rechtsanwalt Michael Stern »zur gefälligen Kenntnisnahme«. Daraus geht u. a. hervor, daß Th. B. und er Peymann gebeten hätten, »sich in dieser Sache« an Stern zu wenden.
2 Hermann Hesse: Eigensinn. Autobiographische Schriften. Auswahl und Nachwort Siegfried Unseld, erscheint am 16. August 1972 als Band 353 der Bibliothek Suhrkamp.
3 Der Brief trägt rechts oben die handschriftliche Notiz von S. U. »Â An U (Berlin viell.)«, was zu lesen ist als: »Keine Antwort, vielleicht nach der Aufführung von Der Ignorant und der Wahnsinnige in Berlin«.