[458; handschriftlich; Ansichtskarte: »Sevilla, Patio Banderas«]
[Sevilla]
[25. März 1983]
Lieber S. U.
der Autor reise u. arbeite!1 – Ich habe die größte Lust, Sie bald zu sehen,*
Ihr Thomas B.
*kerngesund!2
3 Zwischen dem 18. und 28. März bereist Th. B. Spanien.
2 Als S. U. am 9.
Februar Th. B. telefonisch zum 52. Geburtstag gratuliert, hat der
Verleger gerade eine Grippe überwunden. Die beiden treffen sich am
21. April in Wien. Im Reisebericht Paris—Wien,
19.-21. April 1983 ist festgehalten:
»Bernhard-Materialien. Ich lande pünktlich, mit dem Taxi zum Hotel
Hilton. Als ich die Halle betrete, war Thomas Bernhard eine Minute
vorher angekommen. Er liebt ja die Pünktlichkeit. Spaziergang durch
einen Park, dann Mittagessen im Intercontinental. Er ist
aufgeräumt, locker, heiter. Er übergibt mir die Korrekturen seines
Stückes ›Der Schein trügt‹. Die Seiten 58 und 59 fehlen. Wir sollen
sie bitte mit dem Manuskript vergleichen. Er muß das nicht mehr
sehen. […]
Es wurde vereinbart, daß Peymann das Stück ›Der Schein trügt‹
Anfang der nächsten Spielzeit in Bochum herausbringt, also
wahrscheinlich Oktober.
Peymann ist jetzt beschäftigt mit der Premiere ›Wintermärchen‹, die
Ende April / Anfang Mai stattfinden wird. Peymann wird also nach
den ›Wintermärchen‹ die Uraufführung ›Der Schein trügt‹ im Oktober
machen. Bernhard müsse sich dann Mitte Mai mit Peymann treffen, in
Barcelona, Madrid oder an einem anderen Ort. Ihm läge freilich
daran, daß er bis dahin die Fahnen seines neuen Romans gelesen
habe, damit er sich dann voll auf das Stück einstellen könnte. Wir
sollten also wirklich den Versuch machen, bis 12. / 13. Mai Fahnen
an Bernhard abgeliefert zu haben.
Dann übergibt er mir das Manuskript, das früher ›Chur‹ hieß, dann
›Der Asphaltgeher‹ und jetzt ›Der Untergeher‹. Ihm schwebe vor,
Format wie ›Beton‹, aber einen Umschlag zu machen in der
Typographie wie die ›Verstörung‹, und das Wichtigste: die Farben
müssen schwarz-gelb sein. Das Manuskript umfasse über 90 Seiten,
also drucktechnisch 240 Seiten, so stelle er sich das
vor.
Und dann das Merkwürdige: Er erzählt ganz von sich aus ungefragt
die Geschichte dieses Manuskripts. Wenn großartige Leistungen von
einem Genie berührt würden, versänken die großartigen Leistungen,
und das Genie bliebe übrig. Es gäbe hier drei Leute, die in einer
Art Freundschaft zusammen sind.
Herausragend Glenn Gould, der bedeutendste Pianist dieses
Jahrhunderts, ein Herr Wertheim und der Ich-Erzähler. Thomas
Bernhard bemüht sich, mir die Geschichte zu erzählen. Diese drei
sind zusammen im Mozarteum, dann zusammen in der Klavierschule von
Horowitz. Alle wissen, Glenn Gould ist der Große. Der Ich-Erzähler
könnte vielleicht auch ein Pianistenvirtuosentum schaffen, aber
Wertheim weiß, er schafft es nicht. So kann es der Ich-Erzähler
leichter aufgeben, aber Wertheimer fällt seine Aufgabe sehr schwer.
Während Glenn Gould verrückt ist, spielt und in zwei Jahren 34
Konzerte gibt, dann aber aufhört, sich in den USA in ein Haus am
Wald zurückzieht und nur noch in seinem Studio an Platten arbeitet
und dann dem vorgegebenen Ende folgt, ist Wertheim vollkommen
betroffen von dem Schicksal von Glenn Gould. Er lebte fast 20 Jahre
mit seiner Schwester zusammen. Die Schwester war sein ein und alles
für ihn. Er hat, so sagt er, für seine Schwester die Karriere
geopfert, d. h. sein Pianistentum für die Schwester aufgegeben. Im
Alter von 46 Jahren aber lernt die Schwester einen Schweizer
kennen, den Chef eines Chemiekonzerns in Chur, und obschon er diese
Schwester mit allen Fesseln an sich gefesselt hat und ihr keine
Chance gibt, zu entkommen, benützt sie diese Gelegenheit. ›Geh weg
und heirate diesen Mann‹, und Wertheim ist allein. Er wird
betroffen von dem Tod von Glenn Gould und vom Weggang, dem im
Stichgelassensein der Schwester. Wertheim reist ihr nach, erhängt
sich 100 Meter von der Wohnung entfernt in Chur. Der Ich-Erzähler,
von der Schwester zum Begräbnis aufgefordert, besucht das
Begräbnis, fährt nach Traich, der letzten Wohnstatt derer von
Wertheim, wo Papiere von Wertheim noch aufbewahrt werden sollten.
Unterwegs besucht er einen Gasthof ›Wankham‹, und beim Betreten des
Gasthauses werden seine Überlegungen und die ganze Geschichte noch
einmal repliziert. Ich meine, ein guter Thomas Bernhard, ein
erfolgreicher Thomas Bernhard, aber ohne diese Bedeutung und diese
Brillanz von ›Beton‹ und ›Wittgensteins Neffe‹.
Er erinnert noch einmal daran, mit Fug und Recht, denn am
24. Mai haben wir vor 20 Jahren den Insel Verlag gekauft, daß
›Frost‹ damals eine Rolle spielte. Er verabscheut die Idee eines
Buches über ›Frost‹, aber er hätte doch sehr gerne, daß man ›Frost‹
als Leinenausgabe noch einmal herausbrächte. Und im übrigen auf
sein Freilassinger Konto wünsche er sich
DM 30.000.—.
Entzückt ist er vom Umschlag, den Fleckhaus für ›Chur‹ gemacht hat.
Wir sollen ihm dringend eine Fotokopie schicken.«