Besteht Hoffnung?
Die in diesem Kapitel unterbreiteten politischen und ökonomischen Reformen beruhen auf der Annahme, dass Marktkräfte zwar dazu beigetragen haben, dass die Ungleichheit in den USA die gegenwärtigen Dimensionen angenommen hat, dass aber letztlich die Politik die Marktkräfte gestaltet. Wir können daher die Kräfte des Marktes so umgestalten, dass sie eine gegenläufige Entwicklung begünstigen. Wir können dafür sorgen, dass Märkte funktionieren oder zumindest besser funktionieren. In ähnlicher Weise werden wir niemals ein System erschaffen, in dem völlige Chancengleichheit besteht; aber wir können zumindest ein Mehr an Chancengleichheit erreichen. Die Große Rezession hat die Ungleichheit in den USA nicht hervorgebracht, aber sie hat sie deutlich verschlimmert, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass man nicht länger die Augen davor verschließen kann; sie hat die Zugangschancen eines Großteils der Bevölkerung weiter eingeschränkt. Wenn wir die geeigneten politischen Maßnahmen ergreifen, entsprechend der in diesem Kapitel dargelegten Agenda, können wir deutliche Verbesserungen erzielen. Es geht nicht darum, Ungleichheit gänzlich zu beseitigen oder vollkommene Chancengleichheit zu verwirklichen. Es geht darum, das Ausmaß der Ungleichheit zu verringern und den Grad der Chancengleichheit zu erhöhen. Die Frage lautet: Können wir das bewerkstelligen?
Unsere Demokratie, mag sie auch unfair und verzerrt sein, bietet uns zwei Wege, um Reformen durchzusetzen. Die 99 Prozent könnten erkennen, dass sie von dem einen Prozent hinters Licht geführt wurden: dass das, was im Interesse des obersten einen Prozents ist, nicht in ihrem Interesse ist. Das eine Prozent hat alles darangesetzt, die übrigen 99 Prozent davon zu überzeugen, dass eine andere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht möglich sei; dass es den 99 Prozent zwangsläufig schade, wenn irgendetwas unternommen wird, was das eine Prozent nicht will. In diesem Buch habe ich nicht nur diesen Mythos zerstört, sondern auch dargelegt, dass wir nicht nur unsere Wirtschaft dynamischer und effizienter, sondern zugleich unsere Gesellschaft fairer gestalten können.
Im Jahr 2011 sahen wir, wie Millionen von Menschen auf die Straße gingen, um gegen die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in ihren repressiv-autoritär regierten Ländern zu protestieren. In Ägypten, Tunesien und Libyen wurden die Machthaber gestürzt. In Jemen, Bahrain und Syrien kam es zu Massenprotesten. Die Herrscherfamilien in anderen Ländern der Region verfolgten dies aus ihren klimatisierten Penthäusern heraus mit nervösem Unbehagen. Sind sie als Nächstes an der Reihe? Sie sind zu Recht beunruhigt. In diesen Gesellschaften besitzt ein winziger Teil der Bevölkerung – weniger als ein Prozent – den Löwenanteil des Gesamtvermögens; hier ist die politische und wirtschaftliche Machtstellung des Einzelnen ganz entscheidend von seinem Reichtum abhängig; hier ist Korruption an der Tagesordnung, und hier widersetzen sich die Reichsten oftmals aktiv einer Politik, die die Lebensbedingungen der Bevölkerung insgesamt verbessern würde. Angesichts dieser entfesselten Massen auf den Straßen mögen wir uns selbst ein paar Fragen stellen. Wann schwappen die Proteste nach Amerika über? Wann werden andere westliche Länder von Ausläufern dieser Beben erschüttert? Die USA haben mancherlei Ähnlichkeit mit diesen Krisenstaaten, in denen eine winzige Elite das Sagen hat. Wir haben einen großen Vorteil – wir leben in einer Demokratie –, aber es ist eine Demokratie, in der die Interessen weiter Teile der Bevölkerung politisch immer weniger Berücksichtigung finden. Die Menschen spüren das – es schlägt sich in der niedrigen Zustimmung für die Arbeit des Kongresses und in der erschreckend niedrigen Wahlbeteiligung nieder.
Aber es könnte auch noch auf einem anderen Weg zu Reformen kommen: Das eine Prozent könnte erkennen, dass das, was in den Vereinigten Staaten geschehen ist, nicht nur unseren Werten widerspricht, sondern dass es nicht einmal im Interesse des einen Prozents selbst liegt. Alexis de Tocqueville nannte das, was er als ein Kernelement des besonderen Genius der amerikanischen Gesellschaft ansah, »wohlverstandenen Eigennutz«. Dabei ist das Adjektiv entscheidend. Jeder Mensch ist in einem engeren Sinne eigennützig: Ich will das, was mir nützt, sofort! »Wohlverstandener« Eigennutz ist etwas anderes. Es bedeutet die Einsicht, dass das eigene Wohlergehen in letzter Konsequenz davon abhängt, dass man die Eigeninteressen aller anderen – kurzum: das Gemeinwohl – beachtet.27 Tocqueville behauptete nicht, dass an dieser Einstellung etwas Edles oder Idealistisches sei. Nein, er behauptete das genaue Gegenteil: Es sei ein Kennzeichen des amerikanischen Pragmatismus. Diese gerissenen Amerikaner hätten eine grundlegende Tatsache begriffen: An seinen Nächsten zu denken, ist nicht nur gut für das eigene Seelenheil; es ist auch gut fürs Geschäft.
Das oberste eine Prozent hat die besten Häuser, die beste Bildung, die besten Ärzte und den besten Lebensstil, aber da ist eine Sache, die man sich mit Geld wohl nicht kaufen kann: die Einsicht, dass das eigene Schicksal eng damit verbunden ist, wie die übrigen 99 Prozent leben. Die gesamte Geschichte hindurch hat das oberste eine Prozent dies irgendwann begriffen – oft allerdings zu spät.
Wir haben gesehen, dass sich Politik und Wirtschaft nicht trennen lassen und dass wir, wenn wir ein System erhalten wollen, in dem jeder Bürger – und nicht jeder Dollar - eine Stimme hat, unser politisches System unbedingt reformieren müssen; aber es dürfte uns kaum gelingen, innerhalb eines Wirtschaftssystems, in dem die Schere zwischen Arm und Reich so weit geöffnet ist, ein faires und aufgeschlossenes politisches System zu verwirklichen. Wir haben in jüngster Vergangenheit erlebt, dass unser politisches System nicht funktionieren kann, wenn kein tiefes Gemeinschaftsgefühl vorhanden ist; doch woran soll sich dies auch festmachen, wenn unser Land so gespalten ist? Und angesichts der wachsenden Kluft in unserer Wirtschaft können wir nur fragen: Was bedeutet sie für die Zukunft unserer Politik?
Der Zustand der US-amerikanischen Gesellschaft in fünfzig Jahren lässt sich anhand zweier Szenarien ausmalen. In dem einen ist die soziale Spaltung zwischen Arm und Reich größer denn je: Die USA sind ein Land, wo die Reichen in abgeschotteten Wohnanlagen leben, ihre Kinder auf teure Privatschulen schicken und sich eine erstklassige medizinische Versorgung leisten können. Unterdessen leben die übrigen Amerikaner in einem Umfeld, das von Unsicherheit, bestenfalls zweitklassiger Bildung und de facto rationierter medizinischer Versorgung gekennzeichnet ist – sie hoffen und beten, dass sie nicht ernsthaft krank werden. Ganz unten befinden sich Millionen junger Menschen, die sich gesellschaftlich ausgeklinkt haben und alle Hoffnung haben fahren lassen. Ich habe dieses Bild in vielen Entwicklungsländern gesehen; Ökonomen gaben dem Phänomen sogar einen Namen, »duale Wirtschaft«, zwei Gesellschaften, die nebeneinander leben, aber kaum etwas übereinander wissen und sich nicht vorstellen können, wie das Leben in der jeweils anderen Gesellschaft aussieht. Ob wir so tief sinken werden wie einige andere Länder, wo die Mauern immer höher werden und die sozialen Verwerfungen immer tiefer, weiß ich nicht. Allerdings ist dieses Alptraum-Szenario keinesfalls auszuschließen.
Das andere Szenario ist das einer Gesellschaft, in dem die Kluft zwischen Arm und Reich kleiner geworden ist, in der das Gefühl vorherrscht, dass alle dasselbe Schicksal teilen, in der es ein gemeinsames Bemühen um Chancengleichheit und Fairness gibt, in der die Worte »Freiheit und Gerechtigkeit für alle« einen tatsächlichen Zustand beschreiben, in der wir die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ernst nehmen, die die Bedeutung nicht nur der Bürgerrechte, sondern auch der wirtschaftlichen Rechte, und nicht nur der Eigentumsrechte, sondern auch der wirtschaftlichen Rechte des einfachen Bürgers betont. In dieser Vision haben wir ein lebendiges politisches System, das sich grundlegend von jenem unterscheidet, in dem 80 Prozent der jungen Menschen so politikverdrossen sind, dass sie nicht einmal mehr zur Wahl gehen.
Ich glaube, dass nur dieses zweite Szenario mit unserem historischen Erbe und unseren Werten in Einklang steht. Die US-Amerikaner werden nicht nur eine deutlich höhere Lebensqualität genießen, sondern auch ein stärkeres Wirtschaftswachstum (insbesondere wenn dieses sachgerecht gemessen wird) verzeichnen, als es der Fall wäre, wenn sich die sozialen Gräben vertiefen. Es ist für dieses Land noch nicht zu spät, das Ruder herumzureißen und sich auf jene Grundprinzipien der Fairness und Chancengleichheit zurückzubesinnen, auf denen es errichtet wurde. Doch uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Vor vier Jahren gab es einen Moment, in dem die meisten Amerikaner die Kühnheit besaßen zu hoffen. Es schien möglich zu sein, Trends, die seit mehr als 25 Jahren anhielten, umzukehren. Stattdessen verschlimmerten sie sich. Heute ist diese Hoffnung zu einem Flackern verkommen.