Warum wir den Rechtsstaat brauchen

»Niemand ist eine Insel«, heißt es treffend in einem alten Gedicht. In jeder Gesellschaft kann das, was eine Person tut, anderen schaden oder ihnen nützen. Ökonomen nennen diese Effekte »Externalitäten«. Wenn diejenigen, die andere schädigen, für die Konsequenzen ihrer Handlungen nicht in vollem Umfang einstehen müssen, haben sie keine ausreichenden Anreize, niemanden zu schädigen und Vorkehrungen zu treffen, um Schadensrisiken abzuwenden. Wir haben Gesetze, die jedem von uns Anreize geben, anderen – ihrem Eigentum, ihrer Gesundheit und den öffentlichen Gütern (wie der Natur), die sie nutzen – nicht zu schaden. Ökonomen haben sich auf die Frage konzentriert, wie man Anreizstrukturen so ausgestaltet, dass Individuen und Firmen die externen Effekte ihrer Handlungen berücksichtigen: Stahlhersteller sollten gezwungen werden, für die Umweltverschmutzung, die sie verursachen, zu zahlen, und Unfallverursacher sollten für die Schadensfolgen aufkommen. Wir drücken diese Ideen zum Beispiel in dem »Verursacherprinzip« aus, das besagt, dass Umweltverschmutzer für die Schadensfolgen ihrer Handlungen umfassend einstehen sollten. Müsste man für die Schadensfolgen der eigenen Handlungen nicht vollständig einstehen – zum Beispiel für die Verschmutzung, die durch Produktionsprozesse verursacht wird –, wäre dies eine Subvention. Es ist genau so, als zahlte man die Arbeits- oder Kapitalkosten nur zum Teil. Einige Unternehmen, die sich dagegen wehren, für die von ihnen verursachte Umweltverschmutzung einzustehen, drohen mit dem möglichen Verlust von Arbeitsplätzen. Kein Ökonom würde für die Beibehaltung verzerrender Arbeitsmarkt- oder Kapitalsubventionen plädieren, um Arbeitsplätze zu retten. Dass eine Person oder Firma die Kosten, die sie der Umwelt auferlegt, nicht trägt, ist eine Form der Subvention, die nicht mehr hingenommen werden sollte. Die Verantwortung dafür, Vollbeschäftigung zu gewährleisten, liegt andernorts – bei der Geld- und der Fiskalpolitik.

Die Tatsache, dass es Unternehmen oftmals gelingt, für die Schadensfolgen ihrer Handlungen nicht in vollem Umfang einstehen zu müssen, ist ein Beispiel dafür, wie sie die ökonomischen Spielregeln zu ihren Gunsten beeinflussen. Aufgrund von Gesetzen, die ihre Haftung einschränken, sind die Betreiber von Kernkraftwerken und Offshore-Bohrinseln davor geschützt, im Fall einer Explosion für sämtliche Schadenskosten aufkommen zu müssen.2 Dies hat zur Folge, dass es mehr Kernkraftwerke und Offshore-Bohrinseln gibt, als es ansonsten der Fall wäre – tatsächlich ist es fraglich, ob es ohne ein ganzes Arsenal an staatlichen Subventionen auch nur ein einziges Kraftwerk gäbe.3

Manchmal sind die Kosten, die Firmen anderen auferlegen, nicht sofort ersichtlich. Unternehmen gehen oft hohe Risiken ein, und viele Jahre lang mag alles gutgehen. Aber wenn dann etwas schiefläuft (wie bei dem TEPCO-Kernkraftwerk in Japan 2011 oder in der Chemiefabrik von Union Carbide im indischen Bhopal 1984), können Tausende Menschen geschädigt werden. Zwingt man Unternehmen dazu, den Betroffenen Schadensersatz zu leisten, macht das den Schaden im Grunde nicht wieder gut. Selbst wenn die Hinterbliebenen eines Arbeiters, der aufgrund unzureichender Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz einen tödlichen Unfall erleidet, finanziell entschädigt werden, wird diese Person dadurch nicht wieder lebendig, Aus diesem Grund können wir uns allein auf Anreize verlassen. Einige Menschen sind risikofreudig – insbesondere wenn andere den Großteil des Risikos tragen. Die Explosion der Förderplattform Deepwater Horizon im April 2010 löste eine Ölkatastrophe aus, bei der Millionen Barrel Öl in den Golf von Mexiko strömten. Die Führungsspitze von British Petroleum war eine Wette eingegangen: An der Sicherheit zu sparen, steigerte kurzfristig die Gewinne. In diesem Fall zockten sie und verloren – aber die Umwelt und die Bewohner Louisianas und der anderen Bundesstaaten am Golf von Mexiko erlitten noch viel höhere Verluste.

Bei den anschließenden Prozessen sitzen die Unternehmen, die den Schaden verursachten, oft am längeren Hebel. Vielleicht sind sie in der Lage, die Geschädigten billig abzufinden, da viele Menschen ein langwieriges Verfahren um angemessenen Schadensersatz nicht durchstehen beziehungsweise sich keine Anwälte leisten können, die denen des Unternehmens ebenbürtig wären. Eine Aufgabe des Staates besteht darin, Justitia zu ihrem Recht zu verhelfen, und im Fall der BP-Katastrophe tat er dies auch – allerdings sehr behutsam, und letztlich wurde deutlich, dass viele der Geschädigten zwar wahrscheinlich Schadensersatz erhalten werden, aber so wenig, dass er lediglich einen Bruchteil des ihnen tatsächlich entstandenen Schadens abdecken wird.4

Der Wirtschaftsnobelpreisträger Ronald Coase von der University of Chicago legte dar, dass unterschiedliche Formen der Zuteilung von Eigentumsrechten gleich effiziente Lösungen für externe Effekte bereitstellen oder dies zumindest in einer hypothetischen Welt ohne Transaktionskosten tun würden.5 In einem Raum mit Rauchern und Nichtrauchern könnte man den Rauchern Luftrechte zuteilen, und wenn den Nichtrauchern saubere Luft mehr wert wäre als den Rauchern das Rauchen, könnten sie die Raucher bestechen, nicht zu rauchen. Alternativ könnte man die »Luftrechte« den Nichtrauchern zuteilen. In diesem Fall könnten die Raucher die Nichtraucher mit Geld dazu bringen, ihnen das Rauchen so lange zu erlauben, wie ihnen das Recht zu rauchen mehr wert ist als den Nichtrauchern saubere Luft. In einer Welt mit Transaktionskosten  – der realen Welt, wo es, zum Beispiel, Geld kostet, Geld von einer Gruppe einzusammeln, um eine andere zu bezahlen – kann eine bestimmte Zuteilung von Rechten allerdings viel effizienter sein als die andere.6 Noch wichtiger aber ist die Tatsache, dass alternative Zuteilungen sehr unterschiedliche Verteilungsfolgen haben können. Gibt man den Nichtrauchern die »Luftrechte«, dann begünstigt man sie auf Kosten der Raucher.

So sehr man sich auch bemüht, man kann Verteilungsfragen nicht entgehen, selbst dann nicht, wenn es sich um einfachste Probleme bei der Organisation einer Volkswirtschaft handelt.7 Die Kehrseite der Verknüpfung dieser »Eigentumsrechts«-/Externalitätenfragen mit solchen der Verteilung ist, dass sich die Begriffe »Freiheit« und »Gerechtigkeit« nicht voneinander trennen lassen. Die Freiheitsrechte jedes Einzelnen müssen beschnitten werden, wenn deren Ausübung anderen womöglich Schaden zufügt. Die Freiheit einer Person, die Umwelt zu verschmutzen, beraubt eine andere ihrer Gesundheit. Die Freiheit einer Person, schnell zu fahren, entzieht einer anderen ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit. 8 Aber wessen Freiheiten sind vorrangig? Um diese fundamentalen Fragen zu beantworten, stellen Gesellschaften Regeln und Rechtsvorschriften auf. Diese Regeln und Vorschriften wirken sich sowohl auf die Effizienz des Systems als auch auf die Verteilung aus: Einige gewinnen auf Kosten von anderen.

Aus diesem Grund ist »Macht« – politische Macht – so wichtig. Wenn die wirtschaftliche Macht in einem Land allzu ungleich verteilt ist, hat dies politische Konsequenzen. Während wir üblicherweise annehmen, dass die Rechtsordnung so gestaltet ist, dass sie die Schwachen vor den Starken schützt und einfache Bürger vor den Privilegierten, haben die Reichen ihre politische Macht eingesetzt, um die Rechtsetzung so zu beeinflussen, dass sie auf einen Rahmen hinausläuft, innerhalb dessen sie andere ausbeuten können.9 Sie nutzen ihre politische Macht auch zur Aufrechterhaltung von Verteilungsgefällen, anstatt sie in den Dienst einer gerechteren Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu stellen. Wenn bestimmte Gruppen den politischen Prozess kontrollieren, benutzen sie diesen, um das Wirtschaftssystem so zu gestalten, dass es sie begünstigt: durch Rechtsvorschriften, die speziell für eine Branche gelten, durch Rechtsvorschriften, die Insolvenzen, den Wettbewerb, geistiges Eigentum oder die Besteuerung regeln, oder, indirekt, durch die Kosten des Zugangs zum Gerichtssystem. Unternehmen werden behaupten, dass sie das Recht auf Umweltverschmutzung hätten und für den Verzicht darauf Subventionen verlangen; oder vorbringen, dass sie das Recht hätten, das Risiko radioaktiver Verseuchung anderen aufzuerlegen, und versteckte Subventionen und Haftungsbeschränkungen fordern, um sich gegen Schadensersatzklagen zu schützen, falls die Anlage in die Luft fliegen sollte.

Nach meinen Erfahrungen in der US-Regierung zu urteilen, wollen diejenigen, die Machtpositionen bekleiden, glauben, dass sie das Richtige tun und tatsächlich das verfolgen, was im öffentlichen Interesse liegt. Aber ihre Überzeugungen sind zumindest so weit formbar, dass »Sonderinteressen« sie davon überzeugen können, dass das, was sie wollen, im öffentlichen Interesse ist, während es in Wirklichkeit ihrem eigenen Interesse dient. Diesem Thema gehe ich in diesem Kapitel anhand von drei Beispielen nach, bei denen die Rechtsetzung die Funktionsweise der amerikanischen Wirtschaft in den letzten Jahren maßgeblich geprägt hat: bei der ausbeuterischen Kreditvergabe, im Insolvenzrecht und bei Zwangsversteigerungsverfahren.

Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht
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