Sinkender Lebensstandard
So betrüblich die Einkommensberechnungen, auf die wir uns bislang konzentriert haben, auch sein mögen – ein vollständiges Bild davon, welchen Rückgang im Lebensstandard die meisten Amerikaner verkraften müssen, vermitteln sie nicht. Denn die meisten erleben nicht nur ökonomische Unsicherheit, sondern auch gesundheitliche und, in manchen Fällen, sogar körperliche Unsicherheit. Präsident Obama wollte mit seinem Gesundheitsprogramm den Versicherungsschutz verlängern, doch die Große Rezession und die anschließende strenge Sparpolitik führten zu einem Schritt in die entgegengesetzte Richtung. Medicaid, die Gesundheitsfürsorge für einkommensschwache Personen, wurde zusammengestrichen.
Das Fehlen einer Krankenversicherung trägt dazu bei, dass sich der Gesundheitszustand, insbesondere der Armen, verschlechtert. Die Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten beträgt 78 Jahre und ist damit niedriger als in Japan, wo sie bei 83 Jahren liegt, oder in Australien oder Israel, wo sie sich auf 82 Jahre beläuft. Laut Weltbank standen die Vereinigten Staaten im Jahr 2009 diesbezüglich weltweit an 40. Stelle, direkt hinter Kuba.54
Die Säuglings- und Müttersterblichkeit in den Vereinigten Staaten liegt nur unwesentlich unter der in einigen Entwicklungsländern; die Säuglingssterblichkeit ist zum Beispiel höher als in Kuba, Weißrussland und Malaysia, um nur ein paar Länder zu nennen.55 Und diese schlechten Gesundheitsindikatoren spiegeln im Wesentlichen die traurigen statistischen Daten über mittellose Amerikaner wider. Deren Lebenserwartung unterschreitet beispielsweise die der Reichen um fast 10 Prozent.56 Vor dem Hintergrund, dass das Einkommen des typischen männlichen Vollzeit-Arbeitnehmers seit über dreißig Jahren stagniert und das Einkommen von Erwerbstätigen ohne College-Abschluss sogar gesunken ist, werden pro Familie heute mehr Arbeitsstunden aufgewendet, um einen noch stärkeren Rückgang des Einkommens zu verhindern. Vor allem die Frauen haben ebenfalls eine Erwerbstätigkeit aufgenommen. Unsere Einkommensstatistiken berücksichtigen aber weder den Verlust an Freizeit noch die Einbußen an familiärer Lebensqualität.
Das Sinken des Lebensstandards manifestiert sich unter anderem in veränderten sozialen Verhaltensmustern. Immer mehr junge Erwachsene bleiben bei ihren Eltern wohnen: Betraf dies im Jahr 2005 14 Prozent der Männer zwischen 25 und 34 Jahren, sind es heute etwa 19 Prozent. Bei Frauen in dieser Altersgruppe stieg die Quote von 8 auf 10 Prozent.57 Diese jungen Menschen, die manchmal auch »Bumerang-Generation« genannt werden, sind gezwungen, in ihrem Elternhaus wohnen zu bleiben oder nach dem Studium dorthin zurückzukehren, weil sie sich keine eigene Wohnung leisten können. Sogar soziale Bräuche wie das Heiraten werden durch den Mangel an Einkommen und Existenzsicherheit beeinflusst, zumindest im Moment. In nur einem Jahr (2010) schnellte die Zahl der Paare, die unverheiratet zusammenlebten, um 13 Prozent in die Höhe.58
Die Folgen weit verbreiteter, anhaltender Armut sowie chronischer Unterfinanzierung des öffentliches Bildungswesens und anderer sozialer Leistungen schlagen sich auch in anderen Indikatoren dafür nieder, dass unsere Gesellschaft nicht so funktioniert, wie sie es tun sollte: in einer hohen Kriminalität und einem hohen Prozentsatz der Bevölkerung, der eine Freiheitsstrafe verbüßt.59 Obgleich die Gewaltkriminalität gegenüber ihrem Höchststand (1991) zurückgegangen ist,60 bleibt sie hoch, viel höher als in anderen Industrieländern, und sie erlegt unserer Gesellschaft volkswirtschaftlich und sozial sehr hohe Kosten auf. Die Bewohner sozial schwacher (und auch nicht so prekärer) Stadtviertel leben noch immer in der Angst, körperlicher Gewalt zum Opfer zu fallen. Und es ist teuer, 2,3 Millionen Menschen im Gefängnis zu verwahren. Die US-amerikanische Inhaftierungsrate von 730 Häftlingen pro 100 000 Einwohner (fast einer von hundert Erwachsenen) ist die höchste der Welt und etwa neun bis zehn Mal so hoch wie in den meisten europäischen Ländern.61 Einige US-Bundesstaaten geben für ihre Haftanstalten genauso viel Geld aus wie für ihre Hochschulen.62 Solche Ausgaben sind kein Ruhmesblatt für die Wirtschaft und Gesellschaft eines Landes. Geld, das für »Sicherheit« ausgegeben wird – zum Schutz von Menschen und Eigentum –, fördert nicht das gesellschaftliche Wohlergehen, sondern verhindert lediglich, dass sich die Lage weiter verschlechtert. Doch wir rechnen diese Auslagen genauso wie alle anderen Ausgaben dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu. Wenn die wachsende Ungleichheit in den USA also dazu führt, dass mehr Mittel für Verbrechensprävention ausgegeben werden, schlägt sich dies in einer Erhöhung des BIP nieder; mit einer Zunahme des Gemeinwohls sollte das aber niemand verwechseln.63
Die Inhaftierungsraten verzerren sogar unsere Arbeitslosenstatistik. Das Bildungsniveau von Häftlingen ist weit unterdurchschnittlich, und die Gefangenen stammen aus gesellschaftlichen Gruppen, die von hoher Arbeitslosigkeit betroffen sind. Wenn sie nicht im Gefängnis säßen, würden sie höchstwahrscheinlich zum ohnehin schon aufgeblähten Heer der Arbeitslosen dazustoßen. So gesehen, wäre die wahre Arbeitslosigkeit in den USA höher, und sie würde sich gegenüber der europäischen weniger positiv ausnehmen; wenn die Gesamtzahl der Gefängnisinsassen – 2,3 Millionen – mitgezählt würde, läge die Arbeitslosigkeit bei weit über neun Prozent.64