Effizienzlohntheorie und Entfremdung
Ein zentrales Thema dieses Kapitels ist die Tatsache, dass das Verteilungsgefälle in unserer Gesellschaft in erheblichem Maße darauf zurückzuführen ist, dass private Anreize und soziale Renditen nicht deckungsgleich sind und dass die momentan hochgradige Ungleichheit ebenso wie die weitverbreitete Akzeptanz dieses Umstands es (trotz der ermutigenden Zeichen der Occupy-Wall-Street-Bewegung) heutzutage schwer machen, daran politisch zu rütteln. Die politischen Fehlentscheidungen umfassen viele Bereiche: die makroökonomische Stabilisierung, die Deregulierung von Wirtschaftszweigen, die Unterinvestition in Infrastruktur, öffentliches Bildungswesen, soziale Absicherung und Forschung.
Jetzt möchte ich mich einer ganz anderen Ursache dafür zuwenden, dass eine Volkswirtschaft an Effizienz und Produktivität verliert, wenn es massiv an der Verteilungsgerechtigkeit hapert. Menschen sind keine Maschinen. Man muss sie zu harter Arbeit motivieren. Wenn sie das Gefühl haben, unfair behandelt zu werden, kann es schwer sein, sie zu motivieren. Dies ist eines der zentralen Dogmen der modernen Arbeits-ökonomik, das in der Effizienzlohntheorie aufgegriffen wird, der zufolge die Art und Weise, wie Unternehmen ihre Arbeitnehmer behandeln – und eben auch entgelten –, deren Produktivität beeinflusst. Die Theorie wurde vor fast hundert Jahren von dem bedeutenden Wirtschaftswissenschaftler Alfred Marshall entwickelt, der schon 1895 schrieb: »Hoch bezahlte Arbeitskräfte sind im Allgemeinen effiziente und daher keine teuren Arbeitskräfte«, auch wenn er einräumte: »Dies ist eine Tatsache, die, obgleich sie für die Zukunft der Menschheit mehr Hoffnung in sich birgt als jede andere uns bekannte Tatsache, die Verteilungstheorie erheblich komplizierter machen dürfte.«40
Die Renaissance dieser Theorie nahm in der Entwicklungsökonomik ihren Anfang; einige Theoretiker erkannten, dass unterernährte Arbeitskräfte weniger produktiv sind.41 Aber diese Einsicht gilt auch für fortgeschrittene Industrienationen wie die Vereinigten Staaten, die im Zweiten Weltkrieg feststellen mussten, dass viele Rekruten so unterernährt waren, dass ihre militärische Leistungsfähigkeit dadurch gefährdet war. Bildungswissenschaftler haben gezeigt, dass sich Hunger und Mangelernährung negativ auf die Lernfähigkeit auswirken.42 Aus diesem Grund sind kostenlose Schulessen so wichtig. Angesichts der Tatsache, dass jeder siebte Amerikaner dem Risiko unzureichender Lebensmittelversorgung ausgesetzt ist, sind viele amerikanische Kinder aus sozial schwachen Familien auch einem erhöhten Risiko von Lernproblemen ausgesetzt.
In einer modernen Volkswirtschaft wird die Leistungsfähigkeit jedoch weniger durch Unterernährung als vielmehr durch zahlreiche andere Faktoren beeinflusst. Die Verarmung im unteren und mittleren Einkommensbereich konfrontiert die Betroffenen mit einer ganzen Reihe von Ängsten und Sorgen: Werden sie ihr Eigenheim verlieren? Werden sie ihren Kindern eine Ausbildung finanzieren können, die diesen später zu beruflichem Erfolg verhilft? Werden die Eltern im Rentenalter über die Runden kommen? Je mehr Energie auf diese Sorgen verwendet wird, desto weniger Energie steht für die Produktivität am Arbeitsplatz zur Verfügung.
Der Ökonom Sendhil Mullainathan und der Psychologe Eldar Shafir fanden bei Experimenten heraus, dass ein Leben mit knappen Ressourcen oft zu Entscheidungen führt, die die Bedingungen der Knappheit noch verschärfen: »Die Armen nehmen teure Kredite auf und bleiben arm. Die Vielbeschäftigten [die an Zeit Armen] schieben auf, wenn sie wenig Zeit haben, nur um sich noch mehr aufzubürden.«43 Die Ergebnisse einer sehr einfachen Umfrage veranschaulichen, dass die Armen im Unterschied zu den Bessersituierten kognitive Ressourcen für das tagtägliche Überleben in Anspruch nehmen müssen. Bei dieser Erhebung wurden Personen, die gerade ein Lebensmittelgeschäft verlassen hatten, gefragt, welche Summe sie insgesamt in dem Geschäft ausgegeben hatten und was einzelne Artikel in ihrer Einkaufstasche jeweils kosteten. Die Armen konnten diese Fragen im Allgemeinen präzise beantworten, die Vergleichsgruppe oftmals nicht. Die kognitiven Ressourcen eines Individuums sind begrenzt. Der Stress, nicht genügend Geld zu besitzen, um dringende Bedürfnisse zu befriedigen, mag die Fähigkeit beeinträchtigen, Entscheidungen zu treffen, die die Mangelsituation möglicherweise lindern würden. Der begrenzte Vorrat an kognitiven Ressourcen ist erschöpft, und dies kann Menschen dazu veranlassen, irrationale Entscheidungen zu treffen. Stress und Sorgen können auch den Erwerb neuer Fähigkeiten und Kenntnisse beeinträchtigen. Wenn das Lernvermögen reduziert ist, nimmt die Produktivität langsamer zu, und das verheißt für die langfristige Leistungsfähigkeit einer Wirtschaft nichts Gutes.
Genauso wichtig für die Motivation der Arbeitskräfte ist das Gefühl, fair behandelt zu werden. Auch wenn nicht immer ganz klar ist, was fair bedeutet, und auch wenn das Fairnessempfinden des Einzelnen womöglich durch eigene Interessen verzerrt ist, wächst das Bewusstsein, dass die gegenwärtige Lohndisparität unfair ist. Wenn Manager behaupten, Löhne müssten gesenkt oder Mitarbeiter entlassen werden, damit das Unternehmen wettbewerbsfähig bleibt, und gleichzeitig ihre eigene Vergütung erhöhen, empfinden Arbeitnehmer dies zu Recht als unfair. Das tangiert nicht nur ihre aktuelle Leistungsbereitschaft, sondern auch ihre Loyalität zum Unternehmen, ihre Bereitwilligkeit, mit anderen zu kooperieren, und ihre Bereitschaft, in ihre Zukunft zu investieren. Wie jedes Unternehmer weiß, ist ein zufriedener Arbeitnehmer ein produktiver Arbeitnehmer; und ein Arbeitnehmer, der glaubt, dass ein Unternehmen seinen Führungskräften im Verhältnis zu seinen gewöhnlichen Mitarbeitern zu viel zahlt, ist wahrscheinlich kein zufriedener Arbeitnehmer.44
Eine ausführliche Fallstudie von Alan Krueger und Alexandre Mas über den Reifenhersteller Bridgestone/Firestone brachte ein besonders abschreckendes Beispiel an den Tag. Nach einem profitablen Geschäftsjahr verlangte die Unternehmensleitung, die Schichten von acht auf zwölf Stunden zu verlängern, die abwechselnd tagsüber und nachts abzuleisten waren, und den Lohn für neu eingestellte Mitarbeiter um 30 Prozent zu senken. Mit seiner Forderung schuf das Management die Voraussetzungen für die Produktion vieler fehlerhafter Reifen. Die fehlerhaften Reifen wurden bis zu ihrem Rückruf durch Firestone im Jahr 2000 mit über tausend Unfalltoten und -verletzten in Verbindung gebracht.45
In der Sowjetunion spielte die unter Arbeitern weitverbreitete Meinung, nicht angemessen bezahlt zu werden, eine wesentliche Rolle beim Zusammenbruch der Wirtschaft – ganz im Sinne der russischen Redensart: »Sie tun so, als würden sie uns bezahlen, und wir tun so, als würden wir arbeiten.«
In aktuellen wirtschaftswissenschaftlichen Experimenten hat sich bestätigt, wie wichtig Fairness ist. Ein Experiment zeigte, dass sich Lohnerhöhungen für Arbeiter, die das Gefühl hatten, unfair behandelt zu werden, erheblich auf die Produktivität auswirkten – während sie keinen Effekt auf diejenigen hatten, die ohnehin glaubten, fair behandelt zu werden. Oder nehmen wir eine andere Situation, bei der eine Gruppe von Arbeitern eine ähnliche Aufgabe ausführt. Es wäre zu erwarten gewesen, dass Lohnerhöhungen für einige und Lohnsenkungen für andere die Produktivität der höher entlohnten Arbeiter steigern und die der geringer entlohnten Arbeiter mindern würde, und zwar so, dass sich beide Effekte gegenseitig aufheben. Aber die – im Experiment bestätigte – volkswirtschaftliche Theorie besagt, dass der Rückgang der Produktivität bei den Geringverdienern größer ausfällt als der Produktivitätszuwachs der Besserverdienenden, so dass die Produktivität insgesamt nachlässt.46