Finanzmarktliberalisierung
Während der letzten dreißig Jahre haben sich die US-Finanzinstitute entschieden für die ungehinderte Mobilität von Kapital eingesetzt. Tatsächlich wurden sie zu Vorkämpfern der Rechte oder, besser gesagt, Vorrechte des Kapitals gegenüber den Rechten von Arbeitnehmern oder auch politischen Rechten.19 Rechte tun nichts anderes, als festzulegen, welche Ansprüche die einzelnen wirtschaftlichen Akteure haben: So gehört zu den Rechten, die Arbeiter fordern, etwa das Recht, sich zusammenzuschließen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, Tarifverhandlungen zu führen und zu streiken. Viele undemokratische Regierungen handhaben diese Rechte äußerst restriktiv, aber auch in demokratischen Staaten kommt es zu Einschränkungen. In gleicher Weise haben auch Kapitaleigner Rechte. Das höchste Grundrecht von Kapitaleignern ist der Schutz vor Enteignung. Aber selbst in einer demokratischen Gesellschaft werden diese Rechte beschränkt; das Enteignungsrecht erlaubt es dem Staat, eine Privatperson im öffentlichen Interesse zu enteignen, allerdings im Rahmen eines »rechtsstaatlichen Verfahrens« und nur gegen eine angemessene Entschädigung. In den letzten Jahren forderten die Kapitaleigner weitere Rechte, etwa das Recht, sich ungehindert in anderen Wirtschaftsräumen bewegen zu dürfen. Gleichzeitig sprachen sie sich gegen Gesetze aus, die sie stärker für Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern zur Verantwortung ziehen würden; das betrifft beispielsweise das Alien Torts Statute (Gesetz zur Regelung ausländischer Ansprüche), das es opfern solcher Delikte erlaubt, in den Vereinigten Staaten zu klagen.
Es ist eine einfache ökonomische Tatsache, dass die Effizienzgewinne für die weltwirtschaftliche Produktion durch Freizügigkeit der Arbeitnehmer die Effizienzgewinne durch Freizügigkeit des Kapitals weit, weit übertreffen. Die Differenzen in der Kapitalrendite fallen im Vergleich zu den Unterschieden beim Arbeitsertrag äußerst gering aus.20 Aber die Finanzmärkte haben die Globalisierung angetrieben, und auch wenn diejenigen, die auf den Finanzmärkten arbeiten, ständig von Effizienzgewinnen sprechen, meinen sie im Grunde etwas anderes: ein Regularium, das ihnen Profite beschert und ihren Vorteil gegenüber den Arbeitnehmern ausbaut. Die Drohung, Kapital abzuziehen, sollten die Arbeitnehmer allzu weitgehende Forderungen bezüglich Rechten und Löhnen stellen, sorgt dafür, dass die Löhne niedrig bleiben.21 Der Investitionswettbewerb zwischen Ländern beschränkt sich nicht auf Lohnsenkungen und den Abbau des Arbeitnehmerschutzes. Es gibt vielmehr ganz allgemein einen »Unterbietungswettbewerb«, der auf eine möglichst grobmaschige Regulierung der Wirtschaft und niedrige Steuern zielt. In einem Bereich, dem Finanzsektor, hat sich dies als besonders kostspielig erwiesen und maßgeblich zum Auseinanderdriften der Vermögensverhältnisse beigetragen. Die Länder liefern sich aus Angst, Finanzdienstleister könnten in andere Märkte abwandern, einen Wettstreit um das am wenigsten regulierte Finanzsystem. Einige US-Kongressabgeordnete fürchteten zwar die Folgen dieser Deregulierung, fühlten sich jedoch machtlos: Schließlich drohten die USA Arbeitsplätze und eine wichtige Industrie zu verlieren, wenn sie sich nicht fügten. Rückblickend war dies ein Fehler. Die Verluste, die die USA infolge einer Krise erlitten, die unzureichender Regulierung geschuldet war, wogen weit schwerer als die Zahl der Arbeitsplätze im Finanzsektor, die erhalten blieben.
Während es vor zehn Jahren noch Allgemeingut war zu glauben, dass der freie Kapitalverkehr allen nütze, sind seit der Großen Rezession bei vielen verständlicherweise Zweifel aufgekommen. Diese Bedenken werden nicht nur von Menschen in Entwicklungsländern, sondern auch von einigen der engagiertesten Globalisierungsbefürworter vorgebracht. Tatsächlich hat sogar der IWF (der Internationale Währungsfonds, die internationale Organisation, die für die Stabilität der internationalen Finanzmärkte verantwortlich ist) mittlerweile die Gefahren einer unbeschränkten und exzessiven Integration der Finanzmärkte22 erkannt: Ein Problem in einem Land kann rasch auf ein anderes Land übergreifen. Tatsächlich hat die Angst vor Ansteckungseffekten zur Auflegung von Bankenrettungspaketen mit einem Volumen von aberhundert Milliarden Dollar geführt. Auf ansteckende Krankheiten reagiert man für gewöhnlich mit »Quarantäne«-Maßnahmen, und auch der IWF hielt schließlich im Frühjahr 2011 eine ähnliche Reaktion auf den Finanzmärkten für wünschenswert. Das Pendant zur Quarantäne sind hier Kapitalverkehrskontrollen, mit denen sich die volatilen grenzüberschreitenden Kapitalströme, insbesondere in Krisenzeiten, begrenzen lassen.23
Die Ironie liegt darin, dass in den Krisen, die von den Finanzmärkten hervorgerufen werden, Arbeitnehmer und mittelständische Unternehmen die Hauptlast der Kosten tragen. Krisen gehen mit hoher Arbeitslosigkeit einher, die die Löhne drückt, so dass die Arbeiter doppelt in Mitleidenschaft gezogen werden. In früheren Krisen hat der IWF (in der Regel mit Rückendeckung des US-Finanzministeriums) von angeschlagenen Staaten nicht nur massive Budgetkürzungen verlangt, wodurch aus konjunkturellen Abschwächungen überhaupt erst Rezessionen und Wirtschaftskrisen wurden, sondern er forderte auch Notverkäufe von Staatseigentum, woraufhin die Finanziers auf das weidwunde Wild herabstießen und ihm den Rest gaben. In einem meiner früheren Bücher, Die Schatten der Globalisierung, erläuterte ich, warum Goldman Sachs sowohl aus der Asienkrise von 1997 als auch aus der Finanzkrise von 2008 als Gewinnerin hervorging. Wenn wir uns fragen, weshalb sich die Finanziers derartig bereichern können, dann ist ein Teil der Antwort einfach: Sie haben die Regeln mitgeschrieben, die es ihnen erlauben, selbst in den Krisen, die sie mit verursacht haben, glänzende Geschäfte zu machen.24