Adam Smiths unsichtbare Hand und die Ungleichheit
Adam Smith, der Vater der modernen Volkswirtschaftslehre, behauptete, das eigennützige Streben jedes Einzelnen führe, wie von unsichtbarer Hand gelenkt, zur allgemeinen Wohlfahrt der Gesamtgesellschaft.5 Unter dem Eindruck der Finanzkrise würde heute niemand mehr behaupten, das eigennützige Streben der Banker habe dem Gemeinwohl gedient. Allenfalls diente es dem privaten Wohl der Banker, während die Allgemeinheit die Kosten tragen durfte. Es lief noch nicht einmal auf ein Nullsummenspiel hinaus, wie Ökonomen eine Unternehmung nennen, bei der eine Person genau den Betrag gewinnt, den andere verlieren. Es handelte sich vielmehr um ein Negativsummenspiel, bei dem die Gewinne der Gewinner geringer ausfallen als die Verluste der Verlierer. Die Verluste der übrigen Gesellschaft überstiegen die Gewinne der Banker bei Weitem.
Das eigennützige Streben der Finanziers erwies sich für den Rest der Gesellschaft aus einem einfachen Grund als verheerend: Die Anreize für die Banker deckten sich nicht hinreichend mit dem gesamtgesellschaftlichen Nutzen. Märkte funktionieren dann effizient – gemäß der Hypothese von Adam Smith –, wenn private Erträge und gesellschaftlicher Nutzen gut aufeinander abgestimmt sind, das heißt, wenn private Belohnungen und gesellschaftliche Wohlfahrtszuwächse gleich sind, wie es von der Grenzproduktivitätstheorie angenommen wird. In dieser Theorie entspricht der Beitrag jedes Arbeitnehmers zur allgemeinen Wohlfahrt exakt der privaten Leistungsvergütung. Personen mit höherer Produktivität – die einen größeren Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl leisten – erhalten denn auch einen höheren Lohn.
Adam Smith selbst war sich bewusst, dass es Situationen gibt, in denen persönlicher und gesellschaftlicher Nutzen nicht deckungsgleich sind. So schrieb er: »Geschäftsleute des gleichen Gewerbes kommen selten, selbst zu Festen und zur Zerstreuung, zusammen, ohne dass das Gespräch in einer Verschwörung gegen die Öffentlichkeit endet oder irgendein Plan ausgeheckt wird, wie man die Preise erhöhen kann.«6 Märkte bringen von sich aus oftmals keine effizienten und wünschenswerte Ergebnisse hervor, und dem Staat kommt die Aufgabe zu, dieses Marktversagen zu korrigieren, das heißt, politische Maßnahmen (Steuern und Gesetze) so zu gestalten, dass sich private Anreize und gesellschaftlicher Nutzen im Einklang befinden. (Natürlich gehen die Meinungen darüber, wie dies am besten zu bewerkstelligen sei, oft auseinander. Aber heute glauben nur noch wenige, dass deregulierte Finanzmärkte wünschenswert seien – ihr Versagen hat der Allgemeinheit allzu hohe Kosten aufgebürdet – oder dass es Firmen erlaubt sein sollte, die Umwelt unbeschränkt auszuplündern.) Wenn der Staat seiner Aufgabe gerecht wird, dann sind die Erträge, die beispielsweise ein Arbeitnehmer oder ein Investor erhält, gleich dem Beitrag, den er durch sein Handeln zur gesellschaftlichen Wohlfahrt leistet. Wenn diese nicht übereinstimmen, sprechen wir von Marktversagen, das heißt, Märkte produzieren keine effizienten Ergebnisse. Private Belohnungen und soziale Renditen sind nicht gut aufeinander abgestimmt, wenn der Wettbewerb unvollständig ist, wenn es »externe Effekte« gibt (wenn die Handlungen eines Marktakteurs stark negative oder positive Auswirkungen auf andere haben und der Betreffende für diese Effekte nicht zahlt beziehungsweise materiell entlohnt wird), bei unvollständiger oder asymmetrischer Information (jemand weiß etwas Marktrelevantes, was ein anderer nicht weiß) oder bei fehlenden Risiko- oder anderen Märkten (wenn man sich zum Beispiel gegen viele der wichtigsten Risiken, denen man ausgesetzt ist, nicht versichern kann). Da mindestens eine dieser Bedingungen praktisch in jedem Markt gegeben ist, gibt es wenig Grund zu der Vermutung, Märkte seien im Allgemeinen effizient. Das heißt aber auch, dass der Staat viele Ansatzpunkte hat, um die verschiedenen Formen von Marktversagen zu korrigieren.
Der Staat korrigiert Marktversagen niemals perfekt, aber in manchen Ländern sind die staatlichen Eingriffe sinnvoller und erfolgreicher als in anderen. Nur wenn die wichtigsten Formen von Marktversagen durch staatliches Zutun hinlänglich gut korrigiert werden, kann die Wirtschaft florieren. Eine intelligente Regulierung der Finanzmärkte trug mit dazu bei, dass die Vereinigten Staaten – und die Welt – nach der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre vierzig Jahre lang von einer größeren Krise verschont blieben. Die Deregulierung der achtziger Jahre führte in den folgenden dreißig Jahren zu etlichen Finanzkrisen, von denen die US-amerikanische in den Jahren 2008/9 lediglich die schlimmste war.7 Dass der Staat in diesen Fällen versagt, war jedoch kein Zufall: Der Finanzsektor machte seinen politischen Einfluss geltend, um dafür zu sorgen, dass das Marktversagen nicht korrigiert wurde und die privaten Belohnungen des Sektors kontinuierlich weit über seinem Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt lagen – einer der Faktoren, die zu dem aufgeblähten Finanzsektor und zur hohen Vermögenskonzentration an der Spitze beitrugen.