Die Gesetze von Angebot und Nachfrage

Der gängigen ökonomischen Analyse zufolge lassen sich Löhne und Lohnunterschiede mit Hilfe von Angebot und Nachfrage und strukturelle Veränderungen bei der Ungleichverteilung von Löhnen und Einkommen mit Verschiebungen der Nachfrage- und Angebotskurven erklären. Nach der ökonomischen Standardtheorie werden zum Beispiel die Löhne ungelernter Arbeiter durch das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage bestimmt. Wenn die Nachfrage langsamer wächst als das Angebot,1 sinken die Löhne. Bei der Untersuchung von Veränderungen im Gleichheitsgefälle konzentriert man sich dann auf zwei Fragen: (a) Wodurch sind die Verschiebungen der Nachfrage- und Angebotskurven determiniert? (b) Wodurch sind die »Ausstattungen« (endowments) des Bevölkerungsanteils determiniert, der hochqualifiziert oder sehr vermögend ist?

Das Angebot kann sich durch Einwanderung – legale wie illegale – erhöhen. Durch Zugangserleichterungen zum Bildungssystem kann das Angebot an ungelernten Arbeitskräften sinken und das an Fachkräften steigen. Der technische Wandel kann dazu führen, dass die Nachfrage in einigen Sektoren oder nach bestimmten Berufsgruppen zurückgeht und andere Kategorien von Arbeitskräften plötzlich gefragt sind.

Die globale Finanzkrise spielte sich vor dem Hintergrund eines gravierenden ökonomischen Strukturwandels ab. Dieser umfasst auch einen Umbau des US-amerikanischen Arbeitsmarktes; in den letzten zwanzig Jahren wurden insbesondere im verarbeitenden Gewerbe, ausgerechnet dem Sektor, der in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg dazu beigetragen hatte, eine breite Mittelschicht zu schaffen, Millionen von Arbeitsplätzen vernichtet.2 Dies war zum Teil das Ergebnis von technischen Neuerungen, Produktivitätsfortschritten, die weit größer waren als Steigerungen der Nachfrage. Die Verlagerung von komparativen Vorteilen verschärfte das Problem, da die Schwellenländer, vor allem China, sich Kompetenzen aneigneten und große Summen in Bildung, Technologie und Infrastruktur investierten. Der Anteil der USA an der weltweiten Industrieproduktion war entsprechend rückläufig. Selbstverständlich werden in einer dynamischen Wirtschaft fortwährend Arbeitsplätze zerstört und neue geschaffen. Aber diesmal war es anders: Die neuen Arbeitsplätze waren oftmals schlechter bezahlt und unbeständiger als die alten. Qualifikationen, die Arbeiter in der industriellen Produktion zu gefragten – und hoch bezahlten – Beschäftigten machten, waren an ihren neuen Stellen (sofern sie überhaupt wieder Arbeit fanden) nur von geringem Nutzen, und ihre Löhne spiegelten die Statusänderung wider, wenn sie vom Facharbeiter in der Industrie in einem anderen Wirtschaftssektor zum ungelernten Arbeiter abstiegen. In gewisser Hinsicht wurden die amerikanischen Arbeiter Opfer ihres eigenen Erfolgs: Ihre erhöhte Produktivität brachte sie zur Strecke. Als die freigesetzten Industriearbeiter in anderen Sektoren unterzukommen versuchten, gerieten dort die Löhne unter Druck.

Der Börsenboom und die Immobilienblase zu Beginn des 21. Jahrhunderts trugen mit dazu bei, den tief greifenden Strukturwandel der US-Wirtschaft zu verschleiern. Die Preisblase am Immobilienmarkt verschaffte einigen, die arbeitslos geworden waren, wieder Beschäftigung, aber das sorgte nur vorübergehend für ein wenig Entlastung. Die Blase trieb einen Konsumboom an, der es den Amerikanern erlaubte, über ihre Verhältnisse zu leben: Ohne diese Blase wäre sofort aufgefallen, dass die Einkommen vieler Angehöriger der Mittelschicht stetig sanken.

Dieser sektorale Strukturwandel zählt zu den Schlüsselfaktoren, welche die Ungleichheit in den Vereinigten Staaten vorantrieben. Er hilft zu erklären, weshalb einfache Arbeiter heute so schlecht dastehen. Da ihre Löhne so niedrig sind, ist es nicht weiter verwunderlich, dass es den Spitzenverdienern, die den Löwenanteil der Unternehmensgewinne kassieren, so gut geht.

Ein zweiter Strukturwandel war auf technische Neuerungen zurückzuführen; die Nachfrage nach Fachkräften stieg, und viele ungelernte Arbeiter wurden durch Maschinen ersetzt. Hochqualifizierte profitierten dagegen vom technischen Fortschritt. Es sollte unmittelbar einleuchten, dass Innovationen oder Investitionen, die den Bedarf an ungelernten Arbeitskräften senken (zum Beispiel Investitionen in Roboter), die Nachfrage nach ungelernten Arbeitskräften schwächen und in diesem Segment zu niedrigeren Löhnen führen.

Diejenigen, die den Lohnrückgang im unteren und mittleren Bereich der Einkommensverteilung auf Marktkräfte zurückführen, betrachten dies dann als normales Ergebnis des Ausgleichs dieser Kräfte. Und wenn der technische Wandel so weitergeht wie bisher, dann werden diese Trends wohl leider anhalten.

Marktkräfte haben jedoch nicht immer in dieser Weise gewirkt, und es gibt keine Theorie, die besagt, dass sie notwendigerweise zu solchen Resultaten führen müssen. Im Lauf der letzten sechzig Jahre haben sich Angebot und Nachfrage nach qualifizierten und ungelernten Arbeitskräften in einer Weise verändert, die die Lohndisparitäten zuerst verminderte und dann erhöhte.3 Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten sehr viele Amerikaner aufgrund des GI-Gesetzes Zugang zum Hochschulstudium. (Der Anteil der College-Absolventen an der Erwerbsbevölkerung, der 1940 nur 6,4 Prozent betrug, verdoppelte sich bis 1970 auf 13,8 Prozent.)4 Aber das Wirtschaftswachstum und die Nachfrage nach Hochqualifizierten hielten mit dem erhöhten Angebot Schritt, die Bildungsrendite blieb hoch. Arbeitnehmer mit College-Abschluss verdienten im Schnitt noch immer das 1,59-Fache dessen, was ein Highschoolabsolvent nach Hause brachte – fast keine Veränderung gegenüber der Rate des Jahres 1940 (1,65). Das relative Angebot an ungelernten Arbeitskräften sank, was bedeutete, dass auch diese Arbeitnehmer profitierten; die Löhne stiegen auf breiter Front. Der Wohlstand kam allen zugute, und tatsächlich wuchs das Einkommen in den unteren Schichten bisweilen schneller als an der Spitze.

Doch dann nahm das allgemeine Bildungsniveau in den USA nicht weiter zu, insbesondere im Vergleich zum Rest der Welt. Der Anstieg der Akademikerquote verlangsamte sich, und dies bedeutete, dass das relative Angebot an Fachkräften, das von 1960 bis 1980 im Schnitt um fast 4 Prozent pro Jahr gewachsen war, während der nächsten 25 Jahre nur noch um viel geringere 2,25 Prozent zunahm.5 Im Jahr 2008 betrug der Prozentsatz der Absolventen einer weiterführenden Schule in den USA 76 Prozent, in der EU dagegen 85 Prozent.6 Unter den fortgeschrittenen Industrieländern liegen die Vereinigten Staaten bei der Quote der Hochschulabsolventen nur im Mittelfeld; dreizehn Länder stehen hier besser da.7 Und der Notendurchschnitt amerikanischer Oberschüler, insbesondere in Naturwissenschaften und Mathematik, war bestenfalls mittelmäßig.8

In den letzten 25 Jahren ermöglichte es der technische Fortschritt, insbesondere bei der Computerisierung, einfache, routinemäßige Tätigkeiten von Maschinen erledigen zu lassen. Dadurch erhöhte sich die Nachfrage nach denjenigen, die die entsprechende Technik beherrschten, während die Nachfrage nach Arbeitskräften ohne die geeigneten Kompetenzen zurückging; dies führte zu relativen Lohnsteigerungen für jene, die über die gefragte technische Expertise verfügten.9 Die Globalisierung verschärfte die Folgen des technischen Fortschritts: Routinemäßig oder automatisch zu erledigende Arbeiten verlagert man ins Ausland, wo die erforderlichen Arbeitskräfte nur einen Bruchteil dessen kosten, was in den Vereinigten Staaten üblich ist.10

Zunächst sorgte das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage dafür, dass die Löhne im mittleren Bereich weiter stiegen, während sie im unteren Bereich stagnierten oder sogar sanken. Doch schließlich gewannen die Effekte von Dequalifizierung und Outsourcing die oberhand. In den letzten fünfzehn Jahren haben sich die mittleren Lohngruppen nicht gut entwickelt.11

So kam es zur »Polarisierung« des US-Arbeitsmarktes, wie ich es in Kapitel 1 bezeichnet habe. Die Zahl niedrig bezahlter Arbeitsplätze, die sich nicht leicht computerisieren lassen, hat weiter zugenommen – darunter Arbeitsplätze in der Pflege und anderen Dienstleistungssektoren –, und das Gleiche gilt für hochqualifizierte Tätigkeiten. Dieser technische Wandel, der sehr gut ausgebildete Arbeitskräfte erfordert, hat ganz offensichtlich die Struktur des Arbeitsmarktes beeinflusst: Die Bildungsprämie stieg, die Anforderungen an andere Arbeitsplätze wurden gesenkt und wieder andere Jobs gänzlich vernichtet. Doch die Begünstigung von Hochqualifizierten durch den technischen Fortschritt hat wenig mit dem enormen Vermögenszuwachs an der Spitze der Einkommenspyramide zu tun. Die relative Bedeutung dieses Phänomens, auf das wir später in diesem Kapitel zurückkommen werden, ist ohnehin strittig.

Hier ist eine wichtigere Marktkraft im Spiel. Es war bereits davon die Rede, dass Produktivitätsfortschritte im verarbeitenden Gewerbe zu höherer Arbeitslosigkeit in diesem Sektor führten, weil die Nachfrage nach Industrieerzeugnissen, obwohl sie stieg, damit nicht mithalten konnte. Wenn Märkte gut funktionieren, wechseln freigesetzte Arbeitskräfte normalerweise mühelos in einen anderen Sektor. Die Wirtschaft insgesamt profitiert von den Produktivitätssteigerungen, auch wenn die freigesetzte Arbeitskraft selbst dies nicht tut. Aber der Wechsel in andere Sektoren geht möglicherweise nicht reibungslos über die Bühne. Die neuen Arbeitsplätze befinden sich vielleicht an einem anderen Ort, oder sie verlangen andere Qualifikationen. Ganz unten mögen einige Arbeiter in Sektoren mit rückläufiger Beschäftigung »festsitzen«, weil sie keine anderen Stellen mehr finden.

Womöglich kommt es in weiten Bereichen des heutigen Arbeitsmarkts zu einem ähnlichen Phänomen wie während der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre in der Landwirtschaft. Damals erhöhte sich aufgrund von Produktivitätsfortschritten das Angebot an Agrarprodukten, was die Preise und die landwirtschaftlichen Einkommen Jahr für Jahr unerbittlich verfallen ließ – es sei denn, es gab eine schlechte Ernte, doch das war die Ausnahme. Zu bestimmten Zeitpunkten und insbesondere zu Beginn der Wirtschaftskrise kam es zu einem jähen Rückgang – das Einkommen der Landwirte fiel innerhalb von drei Jahren um mindestens fünfzig Prozent. Als die Einkommen langsamer sanken, wanderten Arbeitskräfte auf neue Stellen in die Städte ab, und die Wirtschaft machte eine geordnete, wenn auch schwierige Phase des Übergangs durch. Aber als die Preise plötzlich einbrachen – und gleichzeitig der Wert ihrer Immobilien und anderen Vermögenssachen deutlich sank –, saßen die Landwirte auf ihren Farmen fest. Sie konnten es sich nicht leisten, irgendwo anders hinzuziehen, und ihre rückläufige Nachfrage nach Gütern, die in städtischen Fabriken hergestellt wurden, sorgte auch dort für Arbeitslosigkeit.

Heute erleben die Industriearbeiter in den USA etwas Ähnliches.12 Ich besuchte vor kurzem ein Stahlwerk in der Nähe meines Geburtsortes Gary in Indiana, und obwohl das Werk noch die gleiche Menge Stahl produziert wie vor Jahrzehnten, tut es dies mit einem Sechstel der früher erforderlichen Arbeiter. Und wieder gibt es weder den Anstoß (push) noch die Zugkraft (pull), um Arbeitskräfte zum Einstieg in neue Sektoren zu bewegen: Wegen gestiegener (Aus-)Bildungskosten ist es für Menschen schwieriger geworden, sich die Qualifikationen anzueignen, die sie für Arbeitsplätze benötigen, in denen sie einen Lohn erhielten, der mit ihrem alten Lohn vergleichbar wäre; und in den Sektoren, in denen vielleicht Wachstum stattgefunden hat, gibt es durch die rezessionsbedingt niedrige Nachfrage nur wenige freie Stellen. Die Folge sind stagnierende oder auch sinkende Reallöhne. Noch im Jahr 2007 lag der Grundlohn eines Arbeiters in der Automobilindustrie bei etwa 28 Dollar pro Stunde. Heute können neu eingestellte Arbeiter aufgrund eines zweigliedrigen Lohnsystems, dem die Gewerkschaft der United Automobile Workers zugestimmt hat, nur noch mit etwa 15 Dollar pro Stunde rechnen.13

Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht
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