Globalisierung, Ungleichheit und Demokratie
Diese Resultate sollten uns nicht überraschen: Wenn die Globalisierung so gestaltet wird, dass sie nur dem einen Prozent nützt, dann stellt sie einen Mechanismus bereit, der Steuervermeidung erleichtert und zugleich strukturelle Zwänge auferlegt, die das eine Prozent nicht nur bei Verhandlungen innerhalb eines Unternehmens am längeren Hebel sitzen lässt (wie wir in Kapitel 3 sahen), sondern auch in der Politik. Nicht nur Arbeitsplätze wurden in zunehmendem Maße ins Ausland verlagert, sondern, in einem gewissen Sinne, auch die Politik. Dieser Trend beschränkt sich nicht auf die Vereinigten Staaten; er ist ein globales Phänomen, und in einigen Ländern ist die Lage noch weit schlimmer als in den USA.
Die anschaulichsten Beispiele liefern Länder, die überschuldet sind.48 Der Verlust der »Kontrolle« über ihr Schicksal – die Machtübergabe an die Gläubiger – reicht bei den Schuldnerstaaten bis in die Anfangszeit der Globalisierung zurück. Im neunzehnten Jahrhundert sahen sich arme Länder, die Banken in reichen Staaten Geld schuldeten, mit militärischer Eroberung beziehungsweise Bombardierung konfrontiert: Mexiko, Ägypten und Venezuela waren Opfer solcher Zwangsmaßnahmen. Dies setzte sich im zwanzigsten Jahrhundert fort: In den dreißiger Jahren gab Neufundland seine Demokratie auf, als es bankrott ging und von seinen Gläubigern verwaltet wurde.49 In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war der IWF das Instrument der Wahl: Faktisch traten Länder ihre wirtschaftspolitische Souveränität an eine Organisation ab, die die internationalen Gläubiger vertrat.
Es ist eine Sache, wenn sich solche Ereignisse in armen Entwicklungsländern zutragen; eine ganz andere ist es, wenn sie in fortgeschrittenen Industrienationen auftreten. Dies geschieht gerade in Europa, wo zuerst Griechenland und dann Italien es dem IWF im Verbund mit der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission (alle nicht demokratisch gewählt) erlaubte, die wirtschaftspolitischen Parameter zu diktieren und anschließend technokratische Regierungen zu ernennen, die die Umsetzung des Programms beaufsichtigen sollen.50 Als Griechenland eine Volksabstimmung über das strikte Sparprogramm abhalten wollte, stießen europäische Politiker und die Banken einen Schrei des Entsetzens aus: Die Griechen würden das Programm womöglich ablehnen, und dies hätte zur Folge, dass die Gläubiger auf ihren Forderungen sitzen bleiben würden.51
Die Kapitulation vor den Diktaten der Finanzmärkte reicht noch tiefer und ist noch subtiler. Sie betrifft nicht nur die Länder, die am Rand des Abgrunds stehen, sondern jedes Land, das an den Kapitalmärkten Geld aufnehmen muss. Wenn das Land nicht das tut, was die Finanzmärkte wollen, drohen sie damit, seine Kreditwürdigkeit herabzustufen, ihr Kapital abzuziehen und die Zinsen zu erhöhen; diese Drohungen zeitigen für gewöhnlich den gewünschten Erfolg. Die Finanzmärkte bekommen, was sie wollen. Vielleicht finden freie Wahlen statt, aber so wie man es den Wählern darstellt, gibt es in den Angelegenheiten, die ihnen am meisten bedeuten – den wirtschaftspolitischen Fragen – keine echten Alternativen.
Luiz Inácio Lula da Silva stand in den neunziger Jahren zwei Mal kurz davor, zum brasilianischen Präsidenten gewählt zu werden, und beide Male protestierte die Wall Street und legte de facto ihr Veto ein. Die Wall Street signalisierte, wenn da Silva gewählt würde, werde man massiv Kapital aus Brasilien abziehen, die Zinsen, die das Land für neue Kredite bezahlen müsste, würden stark ansteigen, Investoren würden einen weiten Bogen um das Land machen, und das Wirtschaftswachstum würde einbrechen. Beim dritten Mal, im Jahr 2002, machten die Brasilianer letztlich klar, dass sie sich von internationalen Finanziers keine Vorschriften mehr machen ließen.52 Und die Leistungsbilanz von Präsident Lula war hervorragend: Er bewahrte die ökonomische Stabilität, förderte das Wachstum und unternahm Schritte, um das extreme Maß an Ungleichheit in Brasilien abzubauen. Er war einer der wenigen Präsidenten weltweit, die nach achtjähriger Amtszeit in der Bevölkerung noch immer genauso beliebt waren wie zu Beginn.
Dies ist nur eines von vielen Beispielen, bei denen die Finanzmärkte mit ihrem Urteil offensichtlich falsch lagen. Verfechter der Finanzmärkte behaupten gern, einer der Vorzüge offener Kapitalmärkte bestehe darin, dass sie »disziplinierend« wirkten. Aber die Märkte sind ein wankelmütiger Zuchtmeister, der in einem Moment ein A-Rating (für erstklassige Bonität) vergibt, nur um im nächsten Moment mit einem D-Rating (Ramsch-Niveau) aufzuwarten. Schlimmer noch: Die Interessen der Finanzmärkte decken sich oftmals nicht mit denen des Landes. Die Märkte sind kurzsichtig und verfolgen eine politische und ökonomische Agenda, die das Wohl der Geldgeber, nicht das der Gesamtgesellschaft im Blick hat.
Das muss nicht so sein. Die Finanzmärkte können hauptsächlich wegen ihrer völligen Offenheit für kurzfristige Kapitalflüsse damit drohen, von einem Tag auf den anderen Kapital aus einem Land abzuziehen. Doch trotz des ideologisch motivierten Bekenntnisses der Finanzmärkte zur sogenannten Kapitalmarktliberalisierung (die gänzlich uneingeschränkte Kapitalzu- und -abflüsse in und aus einem Land erlaubt) – eine Ideologie, die sich mit dem Eigeninteresse der Märkte deckt – fördert eine solche Liberalisierung das Wirtschaftswachstum nicht; vielmehr führt sie zu mehr Instabilität und Ungleichheit.53
Die Probleme reichen tiefer und sind weiter verbreitet, als ich es hier skizzieren konnte. Wie einer der weltweit führenden Globalisierungsexperten, der Harvard-Professor Dani Rodrik, dargelegt hat, sind Demokratie, nationale Selbstbestimmung und vollständige, uneingeschränkte Globalisierung nicht miteinander vereinbar.54
Internationale Unternehmen versuchen oft, das, was sie in ihrem Heimatland nicht durchsetzen können, in der internationalen Arena zu erreichen. Das Finanzdienstleistungsabkommen der Welthandelsorganisation (WTO) sollte die Liberalisierung der Finanzmärkte erzwingen, indem es Regierungen verpflichtete, ausländischen Banken den Eintritt in ihre inländischen Märkte zu erlauben, und gleichzeitig deren Fähigkeit einschränkte, Rechtsvorschriften zu erlassen, die gewährleisten sollten, dass das Finanzsystem stabil bleibt und Wirtschaft und Gesellschaft tatsächlich in der Weise dient, in der es dies tun sollte. Das Handelsabkommen, mit dem die sogenannte Uruguay-Runde endete, hat Ländern weltweit ein Regime von Schutzrechten für geistiges Eigentum aufgezwungen, das schlecht für die wissenschaftliche Forschung, ob in den USA oder weltweit, schlecht für die Entwicklungsländer und schlecht für den Zugang zu medizinischer Versorgung ist. Das Abkommen, das aufgrund von Konzerninteressen mit dem Ziel konzipiert wurde, den freien Austausch von Wissen einzuschränken, stärkt Monopolmacht: Es hilft, Renteneinkommen zu generieren, und diese Renten sind, wie wir in Kapitel 2 sahen, zu einem Gutteil für das heutige Ungleichheitsproblem verantwortlich.55 Unabhängig davon, ob man diese Beurteilung dieses internationalen Abkommens teilt, steht doch außer Frage, dass jedem Land bei der Ausgestaltung des jeweiligen Urheberrechts enge – unnötig enge – Grenzen gesetzt sind. Es hat das Selbstbestimmungsrecht der Staaten und ihre demokratischen Befugnisse untergraben. Sie sind nicht mehr frei, sich ein Schutzrechtsregime zu geben, in dem sich ihre Ansichten darüber, wie sich der wissenschaftliche Fortschritt in ihrem Land am besten fördern lässt, widerspiegelten, wobei sie den Zugang zu Wissen und lebensrettenden Medikamenten mit der Notwendigkeit in Einklang bringen müssten, Anreize für Forschung und Innovation bereitzustellen; sie müssen ein Regime wählen, das den Diktaten der WTO entspricht.56
Es gibt eine Fülle weiterer Beispiele. Die Vereinigten Staaten wollten in ihrem bilateralen Handelsabkommen mit Singapur dieses Land zu einer weniger strengen Regulierung von Kaugummi bewegen, da die US-Regierung befürchtete, die bestehenden Vorschriften könnten die Ausfuhr eines unserer »wichtigsten« Exportprodukte, Kaugummi, einschränken. In ihrem bilateralen Abkommen mit Chile versuchte die US-Regierung Chile eine bindende Zusage zu entlocken, keine Kapitalverkehrskontrollen einzuführen, Regeln, die das Land erfolgreich angewandt hatte, um seine Wirtschaft zu stabilisieren. Bei anderen Abkommen sollten Länder daran gehindert werden, den Kauf von Fahrzeugen mit hohem Spritverbrauch zu erschweren, weil die US-Automobilindustrie auf die Herstellung solcher Spritfresser spezialisiert ist. Abschnitt 11 des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens und andere bilaterale Investitionsabkommen (sowie Wirtschaftsabkommen, die die Vereinigten Staaten und Europa mit Entwicklungsländern geschlossen haben) gewähren Firmen, die infolge von Gesetzesänderungen Gewinneinbußen erleiden, einen Schadensersatzanspruch, etwas, was sowohl der US-Kongress als auch die US-Gerichte ablehnten. Diese Bestimmung ist auf Umweltvorschriften gemünzt, damit der Erlass entsprechender Vorschriften für die Staatskasse teuer wird.57
Für viele Entwicklungsländer – und in den letzten Jahren auch für europäische Länder –, die verschuldet sind und sich an den IWF wenden müssen, waren die Folgen des Verlusts ihrer wirtschaftspolitischen Souveränität gravierend. Zumindest innerhalb der Vereinigten Staaten und der meisten europäischen Länder kann das eine Prozent seinen Willen normalerweise nicht kampflos durchsetzen. Aber Finanzminister benutzen den IWF oftmals, um den Standpunkten des einen Prozents Geltung zu verschaffen und die institutionellen Mechanismen und den regulatorischen und makroökonomischen Ordnungsrahmen zu schaffen, die im Interesse des einen Prozents liegen. Selbst Griechenland musste als Gegenleistung für das Rettungspaket der Europäischen Union im Jahr 2011 Gesetze verabschieden, die sich nicht nur auf den Haushalt, sondern auch auf den Gesundheitssektor, die Rechte der Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen und den Mindestlohn auswirkten. Selbst wenn die Globalisierung die Demokratie nicht durch globale Abkommen oder als Teil einer internationalen »Rettungsaktion« einschränkt, schränkt sie diese durch Wettbewerb ein. Man sagte uns, eine laxe Finanzmarktregulierung sei notwendig, weil die Finanzdienstleistungsunternehmen andernfalls ins Ausland abwandern würden. Als der Vorschlag gemacht wurde, die Boni von Bankern zu besteuern, drohten Londoner Finanzinstitute damit, das Land zu verlassen. In diesen Fällen könnte man kontern: Gott sei Dank, dass wir sie los sind. Die Kosten, die der Gesellschaft durch die Exzesse des Finanzsektors entstanden sind – die Rettungspakete, die Störungen des Wirtschaftsablaufs, die Ungleichheit –, wiegen erheblich schwerer als die wenigen Arbeitsplätze, die Unternehmen in diesem Sektor geschaffen haben. Die Spekulanten werden das Weite suchen; aber diejenigen, die den wirklich wichtigen Finanzgeschäften nachgehen – die Kreditversorgung der heimischen Unternehmen gewährleisten –, werden bleiben. Sie müssen bleiben.
Das Feld, auf dem die Demokratie am stärksten eingeschränkt ist, ist die Besteuerung; das betrifft insbesondere die Gestaltung von Steuersystemen, die dem Verteilungsgefälle entgegenwirken. Das, was Steuerwettbewerb genannt wird – der Wettstreit verschiedener Staaten um die niedrigsten Steuern –, begrenzt den Spielraum für progressive Besteuerung. Bei allzu hoher Steuerbelastung drohen Firmen mit Abwanderung. Das Gleiche tun vermögende Privatpersonen. Hier haben die Vereinigten Staaten zumindest einen Vorteil gegenüber anderen Ländern: Wir werden nach unserem weltweiten Einkommen besteuert. Ein griechischer Staatsbürger, der von den öffentlichen Schulen und Universitäten seines Heimatlandes, von seinen Krankenhäusern und seinem Gesundheitssystem profitiert hat, kann seinen Wohnsitz nach Luxemburg verlagern, unbeschränkt in ganz Europa Geschäfte machen und sich jeglicher Verantwortung für das Zahlen von Steuern entziehen – das gilt selbst für die Rückzahlung seiner Ausbildungskosten.
Wir bekommen oft zu hören, es gehe nicht anders, die Globalisierung lasse uns keine andere Wahl. Dieser Fatalismus, der denjenigen nützt, die vom gegenwärtigen System profitieren, verschleiert die Wahrheit: Diese Notlage beruht auf freier Entscheidung. Die Regierungen unserer Demokratien haben einen ökonomischen Ordnungsrahmen für die Globalisierung ausgewählt, der diesen Demokratien faktisch die Hände gebunden hat. Das oberste eine Prozent befürchtet von jeher, Demokratien könnten unter dem Einfluss etwa einer populistischen Führungsfigur versucht sein, eine »übermäßig« progressive Besteuerung durchzusetzen. Heute versucht man den Bürgern weiszumachen, sie könnten sich dies nicht erlauben – jedenfalls nicht, wenn sie an der Globalisierung teilhaben wollten.
Kurzum, die Globalisierung, so, wie sie politisch gestaltet wurde, engt die Entscheidungsfreiheit unserer Demokratien ein und erschwert es ihnen, die steuer- und ausgabenpolitischen Maßnahmen durchzusetzen, die notwendig sind, um eine Angleichung der Vermögensverhältnisse und Chancengleichheit zu erreichen. Aber die Fesselung unserer demokratischen Entscheidungsstrukturen und -prozesse entspricht genau dem, was die oberen Zehntausend wollen: Wir können eine Demokratie haben, in der die Stimme jedes Bürgers das gleiche Gewicht hat, und trotzdem Ergebnisse erhalten, die man eher in einem System erwarten würde, das nach dem Motto »ein Dollar – eine Stimme« verfährt.58