Vom gesellschaftlichen Zusammenhalt zum Klassenkampf
Der Slogan »Wir sind die 99 Prozent« markiert womöglich einen wichtigen Wendepunkt in der Debatte über Ungleichheit in den Vereinigten Staaten. Amerikaner sind immer vor einer Gesellschaftsanalyse unter dem Klassengesichtspunkt zurückgeschreckt; Amerika, so glaubten wir nur allzu gern, sei ein Land der Mittelschicht, und diese Überzeugung schweißt uns zusammen. Es sollte keine unüberbrückbaren Gegensätze zwischen Ober- und Unterschicht, zwischen Bourgeoisie und Arbeiterschaft geben.8 Aber wenn wir unter einer Klassengesellschaft eine Gesellschaft verstehen, in der die sozialen Aufstiegschancen für Menschen aus den unteren Schichten gering sind, dann sind die USA sogar noch stärker nach Klassen strukturiert als das alte Europa, und die Spaltungen und Interessenkonflikte in unserer Gesellschaft sind sogar größer als dort.9 Die 99 Prozent halten zwar an der traditionellen Überzeugung »Wir gehören alle zur Mittelschicht« fest, allerdings mit einer geringfügigen Modifikation: Sie erkennen, dass wir eben nicht alle aufsteigen. Die große Mehrheit muss sich mit wenig zufriedengeben, während das obere eine Prozent ein ganz anderes Leben führt. Die »99 Prozent« sind Ausdruck des Versuchs, eine neue Koalition zu schmieden – ein neues nationales Identitätsgefühl zu schaffen, das nicht auf der Fiktion einer allumfassenden Mittelschicht basiert, sondern auf der Realität, dass unsere Wirtschaft und Gesellschaft in ökonomischer Hinsicht gespalten sind. Über viele Jahre hinweg gab es zwischen der Spitze und dem Rest unserer Gesellschaft eine stillschweigende Übereinkunft, die etwa folgendermaßen lautete: Wir verschaffen euch Arbeitsplätze und Wohlstand, und ihr tastet unsere Boni nicht an. Jeder bekommt einen Anteil, auch wenn unserer größer ist. Doch jetzt ist diese Vereinbarung zwischen den Reichen und den Übrigen, die immer fragil war, hinfällig geworden. Das oberste eine Prozent häuft Reichtümer an, hat dabei aber den 99 Prozent nichts als existentielle Unsicherheit beschert. Die Mehrheit der Amerikaner hat vom Wirtschaftswachstum schlichtweg nicht profitiert.