Keine Zielkonflikte
In ökonomischen Analysen vor Ausbruch der Krise wurde behauptet, staatliche Eingriffe seien nicht nur überflüssig – weil Märkte im Großen und Ganzen effizient und stabil seien –, sondern auch wirkungslos. Spekulationsblasen kann es nach dieser Logik nicht geben. Aber selbst wenn eine Blase vorhanden wäre, könnten die zuständigen Behörden eine Blase erst nach deren Platzen sicher diagnostizieren; und selbst wenn sie eine Blase feststellten, sei das stumpfe Instrument der Zinssätze das einzige Instrument, das ihnen zur Verfügung stünde. Es sei besser, die Blase einfach sich selbst zu überlassen, da es billiger wäre, den Schlamassel anschließend aufzuräumen, als das Wirtschaftsgeschehen durch Verzerrungseffekte zu stören, nur um das Entstehen einer Blase zu verhindern.
Hätten die Entscheidungsträger der US-Notenbank nicht so sehr der Vorstellung angehangen, es könne keine Blasen geben, dann hätten sie klar erkennen müssen (was Wirtschaftswissenschaftler wie Robert Shiller von der Yale University, einer der führenden Immobilienmarkt-Experten der USA, auch taten),54 dass der beispiellose Anstieg der Immobilienpreise im Verhältnis zu den Einkommen höchstwahrscheinlich eine Blase ist. Zudem hätte die Notenbank nicht die Zinssätze ändern müssen, um die Blase zu dämpfen – sie hätte die Mindestanzahlungen (den Eigenkapitalanteil bei Immobilienkäufen) heraufsetzen oder die Kreditvergabe-Richtlinien verschärfen können. Der Kongress hatte der Notenbank 1994 entsprechende Befugnisse übertragen. Aber in ihrer unverbrüchlichen Treue zum Marktfundamentalismus hatte sich die Notenbank die Hände selbst gebunden. In ähnlicher Weise haben Wirtschaftswissenschaftler der Notenbank Gründe dafür geliefert, sich nicht um die Arbeitslosigkeit zu kümmern. In einer dynamischen Volkswirtschaft wechseln die Menschen von einer Stelle zur nächsten, und dies braucht Zeit, so dass eine natürliche Arbeitslosigkeit entsteht. Wenn man die Wirtschaft unter diese natürliche Rate drücken will, erzeugt man (nach dieser Sichtweise) eine sich stetig beschleunigende Inflation. Wenn die Arbeitslosigkeit auch nur kurz unter diese natürliche Rate fällt, zieht die Teuerung an; aber dann rechnen Marktteilnehmer mit dieser Inflationsrate und berücksichtigen sie bei ihren Lohn- und Preiserhöhungen. Schließlich – und, in den Augen dieser Ökonomen, schon bald – muss die Zentralbank einlenken und es zulassen, dass die Arbeitslosigkeit wieder zur natürlichen Rate zurückkehrt. Aber dann muss, laut dieser Betrachtungsweise, ein weiterer Preis gezahlt werden, um die Inflationsrate zu senken. Hierzu muss die Arbeitslosigkeit über der natürlichen Rate liegen. Andernfalls wird die hohe Inflation einfach fortdauern. Sie behaupten nun, dass die Vorteile der vorübergehenden niedrigen Arbeitslosigkeit viel geringer sind als die Kosten: die höhere Inflation und die anschließende höhere Arbeitslosigkeit.
Diese Anschauungen verschafften den Notenbankern, die nichts gegen die Arbeitslosigkeit tun wollten, intellektuell Rückendeckung. Es gibt jedoch gute Gründe zur Skepsis gegenüber diesen Ideen: Einigen Ländern wie Ghana und Israel ist es gelungen, ihre Teuerungsrate sehr schnell zu geringen Kosten deutlich zu senken. Die zugrunde liegende Hypothese einer stabilen Beziehung zwischen Arbeitslosigkeit und der Rate der Inflationsbeschleunigung hat sich in der Praxis nicht bewahrheitet, und die noch wirkungsmächtigere Hypothese, auf die sich die Behauptung, die Kosten der Deflation seien höher als die Vorteile einer geringfügig höheren Teuerung, stützt, wurde niemals stichhaltig belegt.55
Die Verwendung des Adjektivs »natürlich« in Verbindung mit der Arbeitslosigkeit suggeriert, dass es sich um ein »natürliches« Phänomen handelt, und natürliche Dinge sind gut oder zumindest unvermeidlich. Doch an der gegenwärtig hohen Arbeitslosigkeit ist nichts Natürliches. Und diese Ideen werden von denjenigen aufgegriffen, die nicht wollen, dass die Regierung Schritte gegen die Arbeitslosigkeit unternimmt. Ich bin fest davon überzeugt, dass es erhebliche Spielräume für den Abbau der Arbeitslosigkeit gibt. Millionen von Amerikanern sind zwar beschäftigt, aber sie arbeiten in Teilzeit oder kurz, bloß weil die Gesamtnachfrage zu gering ist. Wie hoch man die »natürliche« Arbeitslosigkeit heutzutage auch immer veranschlagt – und unabhängig davon, ob man das Konzept der »natürlichen« Arbeitslosigkeit überhaupt noch als relevant erachtet –, die Erhöhung der Gesamtnachfrage wäre auf jeden Fall nützlich.56
Selbstverständlich muss die Regierung mehr tun, als nur die Gesamtnachfrage anzukurbeln; sie muss Erwerbstätigen helfen, aus Sektoren, in denen sie gestern gebraucht wurden, in solche zu wechseln, in denen sie morgen gebraucht werden. Diese »aktive Arbeitsmarktpolitik« hat sich in mehreren Ländern, zumal in Skandinavien, bewährt. Die Kürzung von diesbezüglichen Staatsausgaben senkt nicht nur das Gesamteinkommen, indem sie die Nachfrage dämpft, sie führt auch zu einer höheren natürlichen Arbeitslosigkeit, sofern es so etwas gibt. Einschnitte in der Hochschulfinanzierung – die in Natur-, Ingenieurwissenschaften und medizinischen Fächern besonders weitgehend waren – haben zur Folge, dass einige offene Stellen auf diesen Feldern nicht besetzt werden können, und die Kürzungen treffen überproportional die Armen, da sich deren Bildungs- und Arbeitsmarktchancen weiter verschlechtern.57