Falsche Ziele

Amerika ist den falschen Zielen hinterhergejagt. Wir haben uns verirrt. Wir dachten, alle würden in gleicher Weise von einer Zunahme des BIP profitieren, aber dem war nicht so. Selbst wenn die amerikanische Wirtschaft Jahr für Jahr mehr Güter und Dienstleistungen produziert, ist etwas mit ihr nicht in Ordnung, wenn gleichzeitig die Einkommen der meisten Amerikaner Jahr für Jahr sinken. Es ist mittlerweile unverkennbar, dass die gängige Methode zur Messung der Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft – das reale BIP pro Kopf (die Summe aller Güter und Dienstleistungen, die innerhalb eines Landes produziert werden, dividiert durch die Anzahl der Einwohner des Landes, bereinigt um die Inflation) und die BIP-Wachstumsrate – ihren Zweck nicht erfüllt. Die USA stehen im Hinblick auf das reale BIP pro Kopf recht gut da, und diese Zahlen wiegten die Amerikaner in dem Glauben, alles sei bestens. (Allerdings stehen die USA auch in dieser Rangliste nicht an der Spitze. Luxemburg, Norwegen, die Schweiz, Dänemark und das vermeintlich sozialistische Schweden70 erwirtschafteten im Jahr 2010 pro Kopf der Bevölkerung ein höheres BIP.)71

Um nur ein Beispiel dafür herauszugreifen, dass das BIP einen falschen Eindruck vom Erfolg eines Landes erwecken kann: Das BIP pro Kopf misst den Wert der Güter und Dienstleistungen in verschiedenen Sektoren, etwa dem Gesundheits- und dem öffentlichen Sektor, nicht korrekt. Die Bedeutung der beiden genannten Sektoren ist heute viel größer als zu Beginn der BIP-Messung vor fünfzig Jahren. Die USA zum Beispiel erzielen im Gesundheitswesen vergleichsweise schlechte Ergebnisse, was die Lebenserwartung oder praktisch jeden anderen Leistungsindikator des Gesundheitssystems anlangt, geben aber viel Geld dafür aus. Wenn wir die Leistungsfähigkeit messen würden, dann würde die geringere Effizienz des US-amerikanischen Gesundheitssektors den Vereinigten Staaten negativ angerechnet werden, und der Output des französischen Gesundheitssektors wäre höher. Doch nach Lage der Dinge ist es genau umgekehrt: Die Ineffizienz trägt dazu bei, die BIP-Ziffer der USA künstlich aufzublähen.

Nachhaltigkeit wird vom BIP ebenso wenig erfasst – sowohl Einzelpersonen als auch Länder können über ihre Verhältnisse leben, allerdings nur eine Zeitlang. Das war bekanntlich in den Vereinigten Staaten der Fall. Nicht nur die meisten Privatpersonen verschuldeten sich, um ihren Lebensstandard aufrechtzuerhalten; das ganze Land ging so vor. Eine Immobilienpreisblase hielt die Wirtschaft während des größten Teils der nuller Jahre am Laufen, eine Art künstliches Lebenserhaltungssystem, das einen langfristig nicht tragfähigen Konsum hervorbrachte.

Für die Argumentation dieses Buches am wichtigsten aber ist die Tatsache, dass unsere herkömmlichen Einkommensmaße nicht angemessen abbilden, wie sich das Wohlstandsniveau der meisten Bürger verändert hat. Wie wir in Kapitel 1 sahen, kann das BIP pro Kopf ansteigen, obwohl das Wohlstandsniveau der meisten Bürger, Jahr für Jahr, stagniert oder sogar sinkt, wie in den Vereinigten Staaten geschehen.

Und so wie in puncto Einkommen, gibt es auch in allen anderen Dimensionen, die zu unserer allgemeinen Wohlfahrt beitragen, große Disparitäten, und keine davon spiegelt sich im BIP als einem Maß der ökonomischen Leistungsfähigkeit wider. Denken wir nur an das Gesundheits- und Bildungssystem oder die Umwelt. Die Umweltgerechtigkeitsbewegung hat die Aufmerksamkeit auf die gesundheitsschädlichen Umweltbedingungen gelenkt, unter denen viele Geringverdiener leben – die einzige Unterkunft, die sie sich leisten können, liegt in der Nähe umweltverschmutzender Fabriken oder lärmender Flughäfen und Bahnlinien.72

Die Art der Leistungsmessung ist ein Aspekt des Kampfes um Wahrnehmungen und hat gewichtige Konsequenzen, insbesondere in unserer leistungsorientierten Gesellschaft. Unsere Messsysteme wirken sich darauf aus, wie wir unseren Wohlstand – und die relative Leistungsfähigkeit verschiedener Wirtschaftssysteme – einschätzen. Wenn wir das Falsche messen, sind wir versucht, das Falsche zu tun und falsche Schlüsse darüber zu ziehen, was ein gutes Wirtschaftssystem ausmacht.

Messen wir unseren Erfolg am BIP, werden wir uns auf diese Kennzahl konzentrieren und der Frage, wie es den meisten Amerikanern ergeht, nur unzureichend Beachtung schenken. Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Kritiker etwa von Umweltschutzvorschriften behaupten beispielsweise, diese seien kostspielig und wirkten wachstumshemmend. Aber unsere Beurteilung dieses Zielkonflikts (zwischen Umweltschutz und Wachstum) hängt davon ab, wie wir die gesamtwirtschaftliche Produktion erfassen. Wenn wir bei unseren BIP-Messungen die Kosten von Umweltschäden berücksichtigen, dann können bessere Umweltschutzvorschriften das richtig gemessene BIP sogar erhöhen.

Jahrelang war das BSP, das Bruttosozialprodukt, das ungefähr dem Bruttoeinkommen der Bürger eines Landes entspricht, das Standardmaß der Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Doch um 1990 herum fand ein Wechsel zum BIP, dem Bruttoinlandsprodukt, statt, also zu dem Gesamtwert der Güter und Dienstleistungen, die innerhalb eines Landes produziert werden. Bei einem abgeschotteten Land, das keinen Handel mit anderen Ländern treibt oder ausländische Direktinvestitionen erhält, stimmen die beiden Zahlen überein. Aber die Umstellung fand just zu der Zeit statt, als sich das Tempo der Globalisierung beschleunigte. Dies hatte tief greifende Konsequenzen: Wenn das Einkommen, das mit im Inland produzierten Gütern erzielt wird, ins Ausland fließt, kann das BIP steigen, während das BSP sinkt. Und das ist nicht nur eine theoretische Spitzfindigkeit. Die Goldminen von Papua-Neuguinea wurden von ausländischen Firmen mit Sitz in Australien, Kanada oder einem anderen Land erschlossen und betrieben. Papua-Neuguinea erhielt lediglich ein Taschengeld, das nicht einmal die Umweltzerstörungen oder andere negative Folgen für seine Wirtschaft oder die Gesundheit seiner Menschen ausglich.73 Die Fokussierung auf das BIP ermunterte Länder dazu, derartige Projekte in Angriff zu nehmen – da sich dieses Leistungsmaß verbesserte. Hätte man sich dagegen auf das alte Maß, das BSP, konzentriert, dann wären solche Projekte vielleicht verworfen worden.

Zu meiner Zeit als Vorsitzender des Wirtschaftswissenschaftlichen Beirat des Präsidenten versuchte ich die Verantwortlichen in der Regierung zu ermuntern, einige dieser Probleme anzugehen, zum Beispiel durch Erstellung »Grüner BIP-Konten«, die den Schwund natürlicher Ressourcen und die Beeinträchtigung der Umwelt berücksichtigt hätten. Mir wurde klar, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte, als die Kohleindustrie heftig reagierte und Kongressabgeordnete aus Bundesstaaten mit bedeutendem Kohlebergbau sogar drohten, Fördergelder für entsprechende Projektarbeiten zu streichen. Die Kohleindustrie realisierte, dass Wahrnehmungen wichtig sind: Wenn allgemein bekannt würde, dass die Kohleindustrie, bei richtiger Messung, einen negativen Beitrag zum Sozialprodukt leistete, dann hätte dies weitreichende politische Folgen.

Heute besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass wir unsere Messverfahren ändern müssen. Der französische Präsident Sarkozy setzte die Internationale Kommission über die Messung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und des gesellschaftlichen Fortschritts ein, in die ich als einer der Vorsitzenden berufen wurde.74 Dem Ausschuss gehörten Experten aus den Bereichen Statistik, Wirtschafts- und Politikwissenschaft und Psychologie an, zu denen auch drei Nobelpreisträger zählten. Wir waren einhellig der Auffassung, dass das BIP ein schlechtes und potenziell irreführendes Maß sei, aber wir waren uns auch einig darin, dass sich diese Kenngröße verbessern lässt.75 Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht behaupten, dass wir diesen Kampf voll und ganz gewonnen hätten, doch immerhin hat ein Umdenken eingesetzt. Selbst die Vereinigten Staaten unterstützen Projekte zur Erweiterung der volkswirtschaftlichen Kennzahlen. Die G20-Staaten unterstützen Arbeiten zur Entwicklung besserer Messsysteme. Die OECD, die Organisation der fortgeschrittenen Industrieländer, hat ein großes Projekt in Angriff genommen, das auf unserer Arbeit aufbaut. Und überall auf der Welt haben Länder wie Australien, Neuseeland, Schottland, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Südkorea, Italien und viele andere entsprechende Initiativen auf den Weg gebracht.

Ungeachtet der Macht der Reichen, die Medien zu kontrollieren und unsere Wahrnehmung zu manipulieren, lassen sich in demokratischen Gesellschaften Ideen nicht vollständig unterdrücken. Und wenn diese Ideen bei vielen Menschen Widerhall finden, können sie eine Eigendynamik entwickeln.

Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht
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