KAPITEL 1

Amerikas Ein-Prozent-Problem

Nach der Finanzkrise 2007/8 und der Großen Rezession im Anschluss fanden sich sehr viele Amerikaner in dem Treibgut wieder, das über Bord gegangen war, als eine zunehmend dysfunktionale Form des Kapitalismus auf Grund lief. Fünf Jahre später kann einer von sechs Amerikanern, die sich eine Vollzeitstelle wünschen, noch immer keine finden; etwa acht Millionen Familien mussten ihre Eigenheime verlassen, und Millionen weitere rechnen damit, dass ihnen in nicht allzu ferner Zukunft Zwangsvollstreckungsbescheide ins Haus flattern;1 noch mehr sahen mit an, wie sich die Ersparnisse eines ganzen Lebens scheinbar in Luft auflösten. Selbst wenn die ersten Anzeichen eines Aufschwungs, die Optimisten immer wieder sehen, tatsächlich die Vorboten einer echten Erholung wären, würde die Wirtschaft frühestens 2018 wieder zur Vollbeschäftigung zurückkehren. Doch 2012 haben viele die Hoffnung bereits aufgegeben: Wer 2008 oder 2009 arbeitslos wurde, hat seine Ersparnisse aufgebraucht. Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes ist ausgeschöpft. Menschen in mittleren Jahren, die ehedem fest davon überzeugt waren, umgehend wieder Arbeit zu finden, müssen erkennen, dass sie in Wahrheit zwangsverrentet worden sind. Junge Menschen, die mit Zehntausenden von Dollar Schulden vom College abgehen, können überhaupt keine Arbeit finden. Menschen, die zu Beginn der Krise noch bei Freunden und Verwandten unterkamen, sind mittlerweile obdachlos. Häuser, die während des Immobilienbooms gekauft wurden, sind noch immer auf dem Markt oder wurden mit Verlust verkauft; viele stehen leer. Endlich liegt das brüchige Fundament des Finanzbooms der zurückliegenden Dekade offen zutage.

Eine der dunkelsten Seiten der Marktwirtschaft, die ans Licht kam, ist die große und zunehmende Ungleichheit, die dafür sorgt, dass das soziale Gefüge Amerikas und die ökonomische Zukunftsfähigkeit des Landes an den Rändern ausfransen: Die Reichen werden reicher, während die Übrigen unter Entbehrungen leiden, die einst mit dem amerikanischen Traum unvereinbar zu sein schienen. Die Tatsache, dass es in Amerika Reich und Arm gibt, war allgemein bekannt; und obwohl diese Ungleichheit nicht allein durch die Subprime-Krise – die US-Immobilienkrise, ausgelöst durch massive Ausfälle auf dem US-Markt für Hypothekendarlehen niedriger Bonität – und die anschließende Rezession verursacht wurde, sondern sich über einen Zeitraum von dreißig Jahren stetig aufbaute, hatte die Krise die Situation so verschlimmert, dass man das Gefälle nicht länger ignorieren konnte. Die Mittelschicht geriet durch Entwicklungen, mit denen wir uns in diesem Kapitel noch genauer befassen werden, immer stärker unter Druck; die Not der sozial Schwachen war mit Händen zu greifen, als die Löcher im sozialen Sicherungsnetz der USA offensichtlich wurden und öffentliche Unterstützungsprogramme, die bestenfalls unzulänglich waren, weiter zusammengestrichen wurden; dem oberen einen Prozent gelang es dagegen, einen großen Batzen des Volkseinkommens – ein Fünftel – zu behalten, auch wenn die Super-reichen bei einigen Kapitalanlagen Verluste verzeichneten.2

Egal, wo man einen Schnitt durch die Einkommensverteilung macht, stellt man eine Zunahme der Ungleichheit fest; selbst innerhalb des obersten einen Prozents erhalten die obersten 0,1 Prozent von Einkommensbeziehern einen größeren Teil vom Geldkuchen. Im Jahr 2007, dem Jahr vor der Krise, verfügten die obersten 0,1 Prozent der amerikanischen Haushalte über ein 220 Mal höheres Einkommen als der Durchschnitt der unteren 90 Prozent.3 Das Vermögen war sogar noch ungleicher verteilt als das Einkommen, da dem wohlhabendsten einen Prozent mehr als ein Drittel des nationalen Gesamtvermögens gehörte.4 Daten über das Einkommensgefälle liefern nur eine Momentaufnahme einer Volkswirtschaft. Aber eben aus diesem Grund sind die Daten über das Vermögensgefälle so verstörend – denn diese Ungleichheit geht über die Schwankungen des Jahreseinkommens hinaus. Außerdem gibt das Vermögen zuverlässigere Aufschlüsse über Unterschiede im Zugang zu Ressourcen.

In Amerika haben sich die verschiedenen sozioökonomischen Gruppen immer schneller auseinanderentwickelt. In den ersten Nachrezessionsjahren des neuen Jahrtausends (2002 bis 2007) eignete sich das oberste eine Prozent über 65 Prozent des Zuwachses beim Volkseinkommen an.5 Dem obersten einen Prozent ging es blendend, den meisten Amerikanern aber immer schlechter.6

Wenn die Reichen reicher würden und die in der Mitte und am unteren Ende der Wohlstandsskala ebenfalls profitierten, dann würden wir, insbesondere wenn die Anstrengungen derer an der Spitze für das Fortkommen der Übrigen von entscheidender Bedeutung wären, die Erfolge der Begüterten feiern und wären dankbar für ihre Beiträge. Aber das ist nicht das, was geschieht. Angehörige der amerikanischen Mittelschicht haben vielmehr schon lange den Eindruck, immer schlechter wegzukommen, und sie haben Recht. In den dreißig Jahren vor Ausbruch der Krise ist ihr Einkommen weitgehend konstant geblieben.7 Tatsächlich stagniert das Einkommen eines typischen männlichen Vollzeitarbeiters seit weit mehr als dreißig Jahren.8

Die Krise verschlimmerte diese Ungleichheiten in vielfältiger Weise, nicht nur durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit, den Verlust des Eigenheims und stagnierende Löhne. Den Reichen drohten höhere Verluste bei ihrem Aktienvermögen, aber die Aktienmärkte erholten sich einigermaßen und relativ schnell.9 Tatsächlich sind die »Erholungsgewinne« seit der Rezession überwiegend den reichsten Amerikanern zugeflossen: Auf das oberste eine Prozent entfielen 93 Prozent des zusätzlichen Einkommens, das 2010 im Vergleich zum Jahr 2009 in den USA erwirtschaftet wurde.10 In der Unter- und der Mittelschicht steckt das Vermögen hauptsächlich im Eigenheim. Als die durchschnittlichen Immobilienpreise zwischen dem zweiten Quartal 2006 und Ende 2011 um mehr als ein Drittel fielen,11 war dies für einen Großteil der Amerikaner – diejenigen, die hohe Hypothekendarlehen aufgenommen hatten – gleichbedeutend mit dem weitgehenden Verlust ihres Vermögens. Die Topmanager an der Spitze waren hingegen bemerkenswert erfolgreich bei der Verteidigung ihrer hohen Bezüge; nach einem leichten Rückgang im Jahr 2008 bewegte sich das Verhältnis der durchschnittlichen CEO-Jahresgesamtbezüge zum Jahreslohn eines typischen Arbeiters im Jahr 2010 mit 243 zu 1 wieder auf dem Vor-Krisen-Niveau.12

Überall auf der Welt gibt es erschreckende Beispiele dafür, was mit Gesellschaften geschieht, wenn sie das Niveau an Ungleichheit erreichen, auf das die Amerikaner zusteuern. Das ist kein schöner Anblick: Länder, in denen die Reichen in geschlossenen Wohnanlagen leben, wo sie von Scharen schlecht bezahlter Angestellter bedient werden; instabile politische Systeme, in denen Populisten den Massen ein besseres Leben versprechen, nur um sie zu enttäuschen. Vor allem aber fehlt es an Hoffnung. In diesen Ländern wissen die Mittellosen, dass ihre Chancen, der Armut zu entkommen – von einem Aufstieg an die Spitze ganz zu schweigen –, verschwindend gering sind. Das sollten wir nicht anstreben.

In diesem Kapitel lege ich das Ausmaß der Ungleichheit in den Vereinigten Staaten dar und wie es sich in vielfältiger Weise auf das Leben von Millionen von Amerikanern auswirkt. Ich gehe nicht nur darauf ein, wie wir zu einer immer tiefer gespaltenen Gesellschaft werden, sondern auch darauf, warum wir nicht länger wie ehedem das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sind. Ich diskutiere die geringen sozialen Aufstiegschancen von Menschen, die in die Unterschicht geboren werden. Der hohe Grad an Ungleichheit und der Mangel an Chancen, den wir heute in den Vereinigten Staaten beobachten, sind weder unvermeidlich, noch ist ihr jüngster Anstieg, wie wir sehen werden, schlicht das Produkt unerbittlicher Marktkräfte. In späteren Kapiteln werde ich die Ursachen dieser hohen und wachsenden Ungleichheit, die Kosten für unsere Gesellschaft, unsere Demokratie und unsere Wirtschaft sowie mögliche Gegenmaßnahmen beschreiben.

Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht
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