Wie sich die Wahrnehmung von Politik beeinflussen lässt
Heute bemühen sich diejenigen, die die Ungleichgewichte in Gesellschaften aufrechterhalten wollen, aktiv darum, Wahrnehmungen und Überzeugungen so zu manipulieren, dass Ungleichheit eher hingenommen wird. Sie verfügen über das Wissen, die Instrumente, die Mittel und die Anreize, dies zu tun. Auch wenn es schon in der Vergangenheit viele Versuche gegeben hat, gesellschaftliche Wahrnehmungen zu beeinflussen – heute geschieht dies mit wachsender Raffinesse. Wer sich darum bemüht, weiß zum Beispiel mehr darüber, auf welche Weise sich Ideen und Präferenzen manipulieren lassen. Die Betreffenden brauchen nicht mehr nur zu hoffen und zu beten, dass sich die gesellschaftlichen Anschauungen in einer Weise entwickeln, die ihren Interessen dienlich ist.28
Die Tatsache, dass die Begüterten Wahrnehmungen in ihrem Sinne beeinflussen können, widerspricht der Annahme, dass niemand die Entwicklung von Ideen kontrolliere. Die Kontrolle kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Eine Möglichkeit bietet der Zugang zu Bildung und zu den Medien. Wenn eine Gruppe hinsichtlich der Bildungschancen und dem Zugang zu öffentlichen Ämtern und den Medien stark benachteiligt ist, ist sie nicht gleichberechtigt in dem Raum der Diskussion und Konsensfindung vertreten, in dem sich die »herrschende Meinung« konstituiert. Manche Ideen tauchen daher gar nicht auf; andere lassen sich erfolgreich unterdrücken.
Eine zweite Möglichkeit besteht darin, soziale Distanz zu schaffen. Wenn die ökonomische Chancenungleichheit dazu führt, dass eine Gruppe weit schlechter gestellt ist als andere Gruppen, dann finden kaum Kontakte zwischen der ersten Gruppe und Menschen aus den anderen Gruppen statt, so dass diese ärmere Gruppe sich wahrscheinlich auch »kulturell« absondern wird. Dies wiederum hat zur Folge, dass Ansichten über wesensmäßige Unterschiede der armen Gruppe eher Fuß fassen und fortbestehen. Wie ich in Arbeiten über kognitive Bezugsrahmen darlegte,29 hängt die Wirkungsmacht gesellschaftlich konstruierter Kategorien auch davon ab, dass sie nicht als gesellschaftlich konstruiert durchschaut werden.
Wichtiger noch ist, dass nicht nur Güter, sondern auch Ideen – und insbesondere die Ideen, die politischen Konzepten zugrunde liegen – vermarktet werden können. Das moderne Marketing hat uns die Kunst und Wissenschaft der gezielten Beeinflussung von Wahrnehmungen gelehrt, und wer über genügend Mittel verfügt (in überproportionalem Maße sind dies die Vermögenden), hat auch die Instrumente, um genau dies zu tun.
Bei ihrer Produktwerbung haben viele Firmen kaum Bedenken, verzerrte Informationen zu verbreiten oder gar zu lügen. So gelang es etwa den Zigarettenherstellern, Zweifel an den wissenschaftlichen Beweisen für die Gesundheitsgefahren des Rauchens zu streuen, obwohl sie selbst gegenteilige Studienergebnisse im Schrank hatten. In ähnlicher Weise zeigte Exxon keinerlei Skrupel, sogenannte Denkfabriken großzügig finanziell dafür zu unterstützen, dass sie die wissenschaftlichen Belege für die Risiken der globalen Erwärmung in Zweifel zogen, obgleich die Beweislage vollkommen eindeutig war. Gesetze über die Pflicht zu wahrheitsgemäßer Werbung sollen die Spielräume der Firmen bei der Fehlinformation der Verbraucher einschränken, aber bei der Werbung für Ideen und politische Konzepte gibt es nichts Vergleichbares.30 Wir haben bereits mehrere Beispiele kennengelernt – etwa die Behauptung, dass die US-amerikanische Gesellschaft zwar ein höheres Vermögensgefälle als andere aufweisen mag, dafür aber Chancengleichheit biete, oder dass die eigentliche Ursache der Großen Rezession staatliche Maßnahmen zur Förderung des Wohnungseigentums der sozial Schwachen seien – und werden uns noch weitere ansehen.
Überzeugungen und Wahrnehmungen werden selbstverständlich auch von der Ausbildung geprägt, die man durchläuft, und das gilt vielleicht für keine Gruppe in solchem Maße wie für die Ökonomen. Es gibt gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass sich die Wahrnehmungen und Urteile von Ökonomen etwa in Bezug auf Fairness deutlich von denen der übrigen Gesellschaft unterscheiden. Dem Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler von der University of Chicago zufolge hielten 82 Prozent der Befragten aus der Gesamtbevölkerung es für unfair, den Preis von Schneeschaufeln nach einem Schneesturm zu erhöhen; von seinen BWL-Studenten waren nur 24 Prozent dieser Meinung.31 Dies könnte zum Teil damit zusammenhängen, dass sich jene Personen in verstärktem Maße von den Wirtschaftswissenschaften angezogen fühlen, die weniger Wert auf Fairness legen. Es liegen indes auch Belege dafür vor, dass das Studium der Wirtschaftswissenschaften Wahrnehmungen prägt – und angesichts des wachsenden Einflusses von Wirtschaftswissenschaftlern auf politische Inhalte und Maßnahmen haben ihre Fairness-Konzepte und Ansichten über unvermeidliche Zielkonflikte zwischen Gerechtigkeit und ökonomischer Effizienz möglicherweise weitreichende Auswirkungen.
Die politische Rechte hat den prägenden Einfluss der Bildung auf Wahrnehmungen durchaus erkannt; sie versucht daher, aktiv auf die Gestaltung von Lehrplänen in Schulen Einfluss zu nehmen und initiierte überdies ein »Bildungsprogramm« mit dem Ziel, Richtern »ökonomische Kompetenz« zu vermitteln, das heißt, sie dazu zu bringen, die Welt durch die enge Brille konservativer ökonomischer Lehrsätze zu betrachten.32
Eine der effektivsten Methoden, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, besteht darin, Politiker für die eigene Perspektive zu vereinnahmen. Schließlich sind Politiker Ideenhändler. (Politiker dazu zu bringen, sich bestimmte Sichtweisen und Wahrnehmungen zu eigen zu machen, hat einen doppelten Vorteil: Sie verkaufen die Ideen nicht nur der Öffentlichkeit; sie setzen sie auch in Gesetze und Regulierungsmaßnahmen um.) Die Ideen stammen meist nicht von den Politikern selbst; vielmehr greifen sie Gedanken aus der Wissenschaft und von bekannten Intellektuellen, von staatlichen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) auf. Dabei suchen sie sich die Ideen heraus, die mit ihrer eigenen Weltanschauung in Einklang stehen oder die aus ihrer Sicht zumindest den Interessen ihrer Wähler entsprechen. In der von Geld gesteuerten amerikanischen Politik werden nicht alle Wähler gleich erschaffen. Politiker haben einen Anreiz, sich jene Ideen anzueignen, die den Kapitalinteressen dienen.
In einigen Ländern können Politiker auch direkt gekauft werden. Die meisten amerikanischen Politiker sind jedoch nicht so dumm. Sie nehmen keine dicken Briefumschläge entgegen. Das Geld fließt in ihre Wahlkämpfe und in die Schatullen ihrer Partei. Man nennt dies auch »Korruption amerikanischen Stils«. Einige werden nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt mit Geld belohnt, indem sie eine jener »Drehtüren« zwischen Politik und Wirtschaft benutzen, die in den Vereinigten Staaten so mühelos funktionieren; anderen genügen die Wonnen der Macht, die sie heute genießen.
Unterstützung erhalten diese Ideen durch Scharen von »Fachleuten«, die bereitwillig Sachverständigengutachten, Argumente und Geschichten liefern, die die Richtigkeit dieser Ansichten belegen sollen. Der Kampf der Ideen findet an vielen Schauplätzen statt. Die Politiker haben ihre Stellvertreter, ihre Speichellecker, die sich nicht selbst um ein Amt bewerben, aber Varianten dieser Ideen vorbringen und die Ansichten von Rivalen in Frage stellen. Beweise und Argumente auf beiden Seiten sind tendenziös. Bei diesem Kampf geht es (wie bei Werbung im Allgemeinen) um zwei Ziele: Zum einen gilt es, jene zu mobilisieren, die bereits »wahre Gläubige« sind, zum anderen jene zu überzeugen, die noch nicht bekehrt wurden. Die eigenen Anhänger müssen nicht nur auf die Beine gebracht, sondern auch in ihrer Überzeugung gestärkt werden. In einer Demokratie, in der Wahlkämpfe so unglaublich kostspielig sind wie in den Vereinigten Staaten, ist es wichtig, die »Basis« zu mobilisieren, weil das Ergebnis von Wahlen oftmals davon abhängt, wie viel Wahlkampfspenden eingeworben werden und ob man die eigenen Anhänger in hinreichend hoher Zahl zur Stimmabgabe motivieren kann. Einen Rivalen als »Liberalen« oder »Neokonservativen« abzustempeln kann dabei helfen, selbst wenn der Kandidat, den man selbst ins Rennen schickt, völlig farblos ist.
Im Zentrum der Überzeugungsarbeit stehen indes die »unabhängigen Wähler«, jene, die sich nicht als Demokraten oder Republikaner registriert haben. Um sie auf die eigene Seite zu ziehen, sind oft wiederholte einfache, tendenziöse Geschichten meist wirkungsvoller als längere und differenziertere, Appelle an Gefühle oft effektiver als Appelle an die Vernunft. Werbeagenturen verstehen sich hervorragend darauf, eine Botschaft zu einem sechzig Sekunden langen Werbespot, der genau den richtigen Ton trifft, zu verdichten – und so eine emotionale Reaktion auszulösen, die scheinbar durch »vernünftige Argumente« unterfüttert wird.33