Inflationsangst

Die direkte Inflationssteuerung beruht auf drei fragwürdigen Annahmen. Die erste lautet, Inflation sei das schlimmste Übel; die zweite besagt, die Aufrechterhaltung einer konstant niedrigen Inflationsrate sei eine notwendige und fast hinreichende Bedingung für eine hohe und stabile reale Wachstumsrate; der dritten zufolge profitieren alle von einer niedrigen Inflationsrate.45

Hohe Inflation – etwa die Hyperinflation, die der Weimarer Republik zu Beginn der zwanziger Jahre zu schaffen machte – ist ein echtes Problem; aber sie ist nicht das einzige und oft nicht einmal das wichtigste.46 Inflation ist seit über dreißig Jahren in den Vereinigten Staaten und Europa kein großes Thema mehr gewesen. Zumindest in den Vereinigten Staaten hatte die Notenbank zwar ein ausgewogenes Mandat – Inflation, Beschäftigung und Wachstum –, legte das Hauptaugenmerk in der Praxis aber auf die Inflation; bis vor kurzem riskierte jeder Notenbanker, der anderer Auffassung war, als Außenseiter abgestempelt zu werden. Selbst als die Vereinigten Staaten eine Arbeitslosigkeit von neun Prozent verzeichneten  – ohne Berücksichtigung der versteckten Arbeitslosigkeit, was bedeutete, dass die Arbeitslosigkeit in Wirklichkeit viel höher lag –, stimmten die drei »Inflationsfalken« im Zentralbankvorstand wegen ihrer ausschließlichen Fokussierung auf die Inflation dafür, die Zinsen heraufzusetzen.

Im Jahr 2008, kurz vor dem Zusammenbruch der Weltwirtschaft, wurde die direkte Inflationssteuerung auf den Prüfstand gestellt. In den meisten Entwicklungsländern hatte die Inflation angezogen, aber nicht wegen schlechter makroökonomischer Steuerung, sondern weil die Öl-und Lebensmittelpreise in die Höhe schnellten, und diese Produkte beanspruchen in den Entwicklungsländern einen viel größeren Teil des durchschnittlichen Haushaltsbudgets als in den Wohlstandsländern. In China zum Beispiel steuerte die Inflation auf acht Prozent zu. In Vietnam erreichte sie 23 Prozent.47

Gemäß der direkten Inflationssteuerung hätten diese Entwicklungsländer ihre Zinsen anheben sollen, obwohl ihre Teuerung größtenteils importiert war – auf den Weltmarktpreis für Getreide oder Brennstoff hätte dieser Schritt allerdings keine nennenswerten Auswirkungen gehabt.48

Solange Länder in die Weltwirtschaft eingebunden sind – und keine Maßnahmen ergreifen, um den Einfluss der Weltmarktpreise auf ihre Binnenmarktpreise einzuschränken –, steigen die Inlandspreise für Lebensmittel und Energie deutlich, sobald die internationalen Preise anziehen.49 Mit Zinserhöhungen lässt sich die Gesamtnachfrage drosseln und somit die Konjunktur abschwächen und die Preissteigerung für einige Güter und Dienstleistungen zügeln, insbesondere für nicht-handelbare Güter und Dienstleistungen. Aber für sich allein drücken diese Maßnahmen die Teuerungsrate nicht auf das Zielniveau, es sei denn, man steigerte sie ins Unerträgliche. Wenn die Weltmarktpreise für Lebensmittel und Energie jährlich um 20 Prozent steigen, müssten Löhne und Preise in anderen Bereichen fallen, damit die Gesamtinflationsrate zwei Prozent erreicht. Dies würde höchstwahrscheinlich eine deutliche konjunkturelle Abkühlung und hohe Arbeitslosigkeit mit sich bringen. Die Therapie wäre schlimmer als die Krankheit.50

Für Inflationsfalken steht die Wirtschaft immer am Rand des Abgrunds: Sobald die Geldentwertung einsetzt, lässt sie sich nur noch schwer kontrollieren. Und da die Kosten für die Umkehr der Inflation – Deflation – sehr hoch sind, geht man am besten sofort gegen sie vor. Aber diese Ansichten beruhen nicht auf einer sorgfältigen Analyse der Daten. Es gibt keinen Abgrund, und einem leichten Anziehen der Inflation kann man, sofern es Anzeichen dafür gibt, dass es sich um einen anhaltenden Trend handeln könnte, durch eine Verknappung des Kreditangebots wirkungsvoll begegnen.51 Kurzum, es war schlichtweg falsch zu behaupten, ein hoher Beschäftigungsgrad und starkes Wachstum ließen sich am besten durch die Fokussierung auf die Inflationsrate aufrechterhalten. Die Ausrichtung auf die Inflation lenkte die Aufmerksamkeit von Dingen ab, die weitaus wichtiger waren: Die Verluste selbst bei einer moderaten Inflationsrate waren verglichen mit denen, die bei einem Zusammenbruch des Finanzsystems anfallen würden, vernachlässigbar.

Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht
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