Wie die moderne makroökonomische Theorie und die Geldpolitik den 99 Prozent schadeten
Das Hauptaugenmerk der modernen Makroökonomik und der daraus erwachsenden Geldpolitik liegt auf der Inflation: Eine dauerhaft niedrige Inflationsrate soll die makroökonomischen Voraussetzungen für eine prosperierende Marktwirtschaft schaffen. Inflation – insbesondere eine sehr hohe, stark schwankende Inflationsrate – kann ein Problem darstellen, aber in den Vereinigten Staaten und Westeuropa hat die Inflation seit über dreißig Jahren keine besorgniserregenden Höhen mehr erreicht.1 Wenn man sich auf die Probleme von gestern konzentriert, mag einen dies davon abhalten, sich den dringlicheren Problemen der Gegenwart zuzuwenden. In den Jahren vor der Großen Rezession hätten die bei einem Zusammenbruch des Finanzsystems drohenden gigantischen Verluste weitaus größere Sorgen auslösen müssen als eine mögliche geringfügige Effizienzeinbuße infolge eines leichten Inflationsanstiegs.2 In den Jahren nach Beginn der Großen Rezession hätten uns die gigantischen Verluste infolge der Ressourcenverschwendung (weil die Wirtschaft ihr Potenzial nicht ausschöpfte) weitaus größere Sorgen bereiten müssen als eine mögliche geringfügige Effizienzeinbuße infolge eines leichten Anziehens der Teuerungsrate.
Wie in Kapitel 4 erwähnt, sind die Hauptleidtragenden in Krisen Arbeitnehmer und mittelständische Betriebe, und dies gilt in ganz besonderem Maße in dieser Krise, in der die Unternehmensgewinne in vielen Sektoren weiterhin hoch sind3 und es den Banken und den Bankern weiterhin gut geht. Hohe Arbeitslosigkeit schadet denjenigen, die ihren Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen; die meisten derjenigen, die noch Arbeit haben, müssen mit Arbeitszeitverkürzung und sinkenden Einkommen klarkommen. Besonders hart aber trifft es die »ganz unten«. Qualifizierte Arbeitskräfte verdrängen die gering qualifizierten, und die gering qualifizierten verdrängen die ungelernten Arbeitskräfte. All diese Gruppen erleiden Einkommenseinbußen, aber diejenigen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, trifft es besonders hart.4
Hohe Arbeitslosigkeit wirkt sich nicht nur negativ auf diejenigen aus, die ihre Arbeitsplätze verlieren oder auf Kurzarbeit gesetzt werden: Die gesamten unteren 99 Prozent erleiden Wohlstandsverluste, weil die Löhne durch die verstärkte Bewerberkonkurrenz um Arbeitsplätze gedrückt werden. Und die geldpolitischen Strategien der meisten Zentralbanken erzeugten einen Sperrklinkeneffekt, der in den vergangenen Jahrzehnten ohne Rücksicht auf Verluste eingesetzt wurde. Sobald sich die Löhne erholen, beschwören die Zentralbanken mit ihrem Tunnelblick auf die Inflation das Gespenst von Preissteigerungen herauf. Sie erhöhen die Leitzinsen und ziehen die Kreditschraube an, um die Arbeitslosigkeit auf einem unnötig hohen Niveau zu halten. Allzu oft gelingt es ihnen, Lohnerhöhungen zu vereiteln – mit dem Ergebnis, dass die Produktivität sechs Mal stärker gestiegen ist als die Löhne.5 (Zum Zeitpunkt der Krise 2008 hatten die Arbeiter die Verluste der letzten Rezession noch nicht wieder wettgemacht.)6
Den Entscheidungsträgern in den Zentralbanken fällt es schwer, sich auf die Geldpolitik und die Bankenaufsicht zu beschränken. (Wenn sie sich auf ihren eigentlichen Auftrag besonnen und die richtige Geldund Regulierungspolitik betrieben hätten, befände sich die US-Wirtschaft heute in einer viel besseren Verfassung.) Ein Steckenpferd der Notenbanker ist die »stärkere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes«, womit sie für gewöhnlich Lohnsenkungen meinen, insbesondere im Bereich der Mindestlöhne, und die Lockerung des Kündigungsschutzes. Die Schwächung sozialer Sicherungssysteme hat die negativen Auswirkungen einer verfehlten Makropolitik auf die 99 Prozent indes noch verstärkt. Die Mindestlöhne hielten mit der Inflation nicht Schritt (so dass der bundesweite Mindestlohn in den Vereinigten Staaten 2011 real um 15 Prozent niedriger lag als 1980), und dies hat offensichtlich Lohnsenkungen insbesondere im untersten Einkommensbereich erleichtert.7 Die Arbeitslosenversicherung ist ebenfalls nicht mehr auf der Höhe der Zeit, so dass diejenigen, die ihren Arbeitsplatz verlieren und das Glück haben, gegen Arbeitslosigkeit versichert zu sein, heute einen geringeren Prozentsatz ihres vorherigen Lohns erhalten.8 Und wie wir in Kapitel 1 sahen, gibt es mittlerweile eine erschütternd große Zahl von Arbeitslosen, die überhaupt keine Leistungen erhalten.
Der Abbau der sozialen Absicherung und das Drängen auf eine stärkere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes dürften ihrerseits die makroökonomischen Folgen einer verfehlten Geldpolitik verschärft haben. Das beherrschende ökonomische Problem in der Großen Rezession ist, wie schon mehrfach betont, die unzureichende Gesamtnachfrage. Gute soziale Sicherungssysteme sichern Einkommen und Konsum von Arbeitnehmern auch im Fall eines rezessiven »Schocks«. Ökonomen nennen diese Konjunkturpuffer automatische Stabilisatoren. Lohnsenkungen als Reaktion auf einen negativen Schock verstärken hingegen dessen Wirkungen. Die Notenbanker, die »flexiblere Löhne« forderten, sich auf die Inflation konzentrierten und die Risiken einer Finanzkrise ignorierten, verfolgten eine Politik, die die Wirtschaft dem Risiko eines starken Schocks aussetzte und zugleich dafür sorgte, dass der Schock, wenn er sich ereignen sollte, tief greifende und schwerwiegende Konsequenzen hätte.