Zum Schluss
Einige negative Effekte der Ungleichheit fielen vielleicht kleiner aus, wenn diejenigen, die heute arm sind, morgen reich wären, oder wenn es echte Chancengleichheit gäbe. Als die Occupy-Wall-Street-Bewegung die Aufmerksamkeit auf das zunehmende Maß an Ungleichheit lenkte, antwortete die Rechte, beinahe stolz, dass sie sich der Chancengleichheit verpflichtet fühle, während es den Demokraten darum gehe, dass alle dasselbe herausbekommen. Der Haushaltsausschuss des Repräsentantenhauses, in dem jene weitreichenden Budgetbeschlüsse gefasst werden, die die Zukunft des Landes maßgeblich beeinflussen, wird von Paul Ryan, einem Republikaner aus Wisconsin, geleitet. Ryan zufolge scheiden sich die beiden amerikanischen Parteien an der Frage, »ob wir eine Nation sind, die nach wie vor an Chancengleichheit glaubt, oder ob wir uns davon entfernen und die Gleichheit der Ergebnisse in den Vordergrund stellen«.70 Er fuhr fort: »Wir sollten uns nicht auf Umverteilung konzentrieren, sondern auf Aufwärtsmobilität.«
Diese Sichtweise ist in zweifacher Hinsicht irreführend. Sie legt erstens nahe, dass wir zwar in puncto Verteilungsgerechtigkeit scheitern, im Hinblick auf die Chancengleichheit aber erfolgreich sind. In Kapitel 1 wurde deutlich, das dies nicht stimmt. Zweitens wird hier behauptet, wer für progressive Besteuerung eintrete, plädiere dafür, dass alle dasselbe zur Verfügung haben. Dabei geht es den Demokraten nach Einschätzung des Journalisten Jonathan Chait letztlich nur um eine Politik, »die das sprunghaft ansteigende Einkommensgefälle im Wesentlichen unangetastet lässt und es lediglich geringfügig abmildert«.71
Am wichtigsten ist vielleicht folgender Punkt: Niemand ist allein aus eigener Kraft erfolgreich. Es gibt in den Entwicklungsländern viele intelligente, hart arbeitende, tatkräftige Menschen, die arm bleiben – nicht weil es ihnen an Fähigkeiten mangelte oder sie sich nicht hinreichend anstrengten, sondern weil sie in dysfunktionalen Volkswirtschaften arbeiten. Alle Amerikaner profitieren von der physischen und institutionellen Infrastruktur, die das Land durch die gemeinschaftliche Anstrengung vieler Generationen hervorgebracht hat. Das Beunruhigende ist, dass das oberste eine Prozent in dem Bemühen, sich einen unvertretbar großen Anteil an den Vorteilen dieses Systems zu sichern, womöglich bereit sein wird, das System selbst zu zerstören, um an dem festzuhalten, was es hat.
Ich habe in diesem Kapitel gezeigt, dass wir einen hohen Preis für die Ungleichheit zahlen, die unsere Volkswirtschaft in zunehmendem Maße durch ein Nachlassen von Produktivität, Effizienz und Wachstum sowie durch einen Zuwachs an Instabilität belastet und dass der Nutzen einer gegenläufigen Politik, die zumindest das gegenwärtig hohe Ausmaß der Ungleichheit beseitigt, bei Weitem die Kosten aufwiegt, die dadurch möglicherweise entstehen. Es wurde deutlich, auf wie vielen Kanälen sich die negativen Auswirkungen der Ungleichheit bemerkbar machen. Doch letztlich geht es immer um eines, wie in einer Reihe von Ländern und über längere Zeiträume erhobene empirische Befunde bestätigen: Ein höheres Maß an Ungleichheit geht (wenn alle anderen relevanten Faktoren konstant bleiben) mit niedrigerem Wachstum einher.72 Von allen Kosten, die das oberste eine Prozent unserer Gesellschaft auferlegt hat, fällt die Erosion unseres nationalen Identitätsgefühls, für das Fairness, Chancengleichheit und Gemeinschaftsgefühl so wichtig sind, vielleicht am meisten ins Gewicht. Amerika hat sich lange gerühmt, eine faire Gesellschaft zu sein, in der jeder die gleiche Chance hat voranzukommen, aber die heutigen Statistiken sprechen eine andere Sprache: Die Chancen, dass es ein Amerikaner aus der Unter- oder auch der Mittelschicht in die Oberschicht schafft, sind in Amerika geringer als in vielen europäischen Ländern. Und da die Ungleichheit als solche die Wirtschaft weiter schwächt, werden die Chancen zwangsläufig weiter sinken. Mit einem weiteren Kostenfaktor der in Amerika herrschenden Ungleichheit werde ich mich in den nächsten beiden Kapiteln befassen: der Gefährdung unserer Demokratie.