Bezugsrahmen und Fehlwahrnehmungen
Die Wissenschaft hat gezeigt, wie sehr unsere Wahrnehmungen zum Beispiel durch »Bezugsrahmen« (frames) beeinflusst werden, den Kontext, in den eine Analyse eingebettet ist. Polizeiliche Gegenüberstellungen sind ein bekanntes Beispiel: Obwohl sich keiner der Beschuldigten am Tatort aufgehalten haben kann, identifizieren Augenzeugen einen von ihnen aus voller Überzeugung als Täter. Ein Großteil der politischen Auseinandersetzung dreht sich um Bezugsrahmen. Die Deutungskontexte, die verschiedene Gruppen in unserer Gesellschaft geltend machen (framing), wirken sich auf ihre Urteile aus.
Bezugsrahmen und die entsprechenden Wahrnehmungen und Verhaltensweisen lassen sich manipulieren. Außerdem verstärken sich diese Deutungsmuster und Wahrnehmungen tendenziell selbst.10 Aus einer Reihe von Experimenten geht hervor, wie »zerbrechlich« und leicht beeinflussbar unsere Überzeugungen sind. Die Versuchsteilnehmer wurden beispielsweise gebeten, einen Zettel mit einer Zahl aus einem Hut zu ziehen. Anschließend stellte man ihnen eine Frage, über die sie wahrscheinlich keine gesicherten Informationen besaßen, etwa über die Zahl der Schiffe, die im Vorjahr den Panama-Kanal passierten. Wie sich zeigte, hängt die Antwort in systematischer Weise mit der Zufallszahl zusammen, die die Teilnehmer zuvor aus dem Hut gezogen hatten – wer eine höhere Zahl zog, antwortete systematisch mit einer höheren Zahl.11 Die volkswirtschaftliche Standardtheorie geht, wie bereits erwähnt, von der Annahme aus, dass der Mensch festgefügte Präferenzen und Überzeugungen hat. Wie viel jemand auf die hohe Kante legen möchte, ist demnach eine Entscheidung, welche die Person auf der Basis einer sorgfältigen Nutzenabwägung zwischen heutigem und zukünftigem Konsum trifft. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Wenn Arbeitgeber Mitarbeiter fragen, wie viel sie von ihrem Lohn auf ihr Rentenkonto einzahlen wollen, hängt die Antwort ganz entscheidend davon ab, wie der Arbeitgeber die Frage formuliert. Wenn er zum Beispiel sagt, dass zehn Prozent vom Lohn abgezogen und auf ein Rentenkonto eingezahlt werden, es sei denn, der Mitarbeiter optiert dafür, mehr (15 Prozent) oder weniger (fünf Prozent) zu sparen, entscheidet sich der Arbeiter für 10 Prozent. Sagt der Arbeitgeber hingegen, dass 15 Prozent abgezogen werden, es sei denn, der Beschäftigte optiert für eine kleinere Zahl (fünf oder zehn Prozent), wird mit hoher Wahrscheinlichkeit die Zahl 15 Prozent gewählt. Stellt er die Frage noch anders, indem er zusätzliche Optionen von 20 oder 25 Prozent anführt, wirken sich diese Optionen – die für die meisten Personen irrelevant sind, weil sie sich auf keinen Fall dafür entscheiden würden – dennoch auf die Antwort des Mitarbeiters aus.12
Ein solches Verhalten sollte niemanden überraschen (zumindest niemanden, der kein Ökonom ist). Wir wissen im Grunde nicht, wie unser Leben in vierzig Jahren aussehen wird, und haben daher keine geeignete Grundlage für ein sachgerechtes Urteil darüber, wie viel wir heute sparen sollten. Das ökonomische Standardmodell geht davon aus, dass Individuen wiederholt Entscheidungen treffen – etwa zwischen Eichblatt- und gewöhnlichem Kopfsalat – und durch Experimentieren herausfinden, was sie wirklich mögen. Doch sofern es keine Wiedergeburt gibt, hat ein Mensch keine Möglichkeit, das Ersparnisexperiment mehrfach zu durchlaufen: Spart man zu wenig, wird man es vielleicht eines Tages bereuen, aber man kann sein Leben nicht wieder von vorn beginnen; das Gleiche gilt, wenn man zu viel auf die hohe Kante legt. Und die heutige Welt unterscheidet sich so sehr von der vergangener Tage, dass man weder von seinen Eltern viel über lebenslanges Sparen lernen noch an die eigenen Kinder Entsprechendes weitergeben kann.