Untergräbt unser Marktsystem Grundwerte?
Auch wenn ich mich hier auf Gleichheit und Gerechtigkeit konzentriere, gibt es noch einen weiteren Grundwert, den unser System zu untergraben scheint – den Sinn für Fairplay. Ein elementares Wertebewusstsein zum Beispiel hätte bei denjenigen Schuldgefühle auslösen müssen, die an ausbeuterischem Kreditgebaren mitwirkten, indem sie Hypothekendarlehen an Mittellose vergaben, ohne deren Bonität ausreichend zu prüfen (so dass diese Kredite von vornherein tickende Zeitbomben waren), oder die »Programme« entwarfen, die zu überhöhten Gebühren für Überziehungen (beziehungsweise nicht fristgerecht gezahlten Kreditraten) führten, die zum Milliardengeschäft wurden. Bemerkenswert ist, bei wie wenigen dies der Fall ist und wie wenige Missstände öffentlich anprangerten. Irgendetwas ist mit unserem Werteempfinden passiert, wenn der Zweck, mehr Geld zu verdienen, die Mittel heiligt, was im Falle der US-Immobilienkrise bedeutete, dass die ärmsten Amerikaner und diejenigen mit dem niedrigsten Bildungsniveau über den Tisch gezogen und ausgebeutet wurden.10
Ein Großteil dessen, was passiert ist, lässt sich nur mit dem Ausdruck »moralische Verkommenheit« beschreiben. Viele Menschen, die im Finanzsektor und in anderen Branchen arbeiten, haben ihren moralischen Kompass verloren. Wenn sich die Normen einer Gesellschaft so wandeln, dass vielen Menschen ihre moralische Orientierung abhanden kommt, sagt dies etwas Bedeutsames über die Gesellschaft aus. Der Kapitalismus scheint die Menschen, die von ihm verführt wurden, verändert zu haben. Die Klügsten der Klugen, die für die Wall Street arbeiteten, unterschieden sich von den meisten Amerikanern nur darin, dass sie bessere Studienabschlüsse hatten. Ihre Träume, eine lebensrettende Entdeckung zu machen, eine neue Branche aufzubauen oder den Ärmsten der Armen aus ihrer Misere herauszuhelfen, legten sie auf Eis, während sie für oftmals (gemessen an der Zahl der Arbeitsstunden) unglaublich wenig Arbeit unglaublich hohe Gehälter einstrichen. Doch dann passierte es allzu oft, dass die Träume, die ursprünglich nur auf Eis gelegt worden waren, in Vergessenheit gerieten.11
Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass die Liste der Kritikpunkte an Unternehmen (nicht nur an Finanzinstituten) lang ist, und zwar nicht erst seit gestern. So haben Zigarettenhersteller insgeheim das Suchtpotenzial ihrer gefährlichen Produkte erhöht, und während sie die Amerikaner davon zu überzeugen versuchten, dass es für die gesundheitlichen Gefahren ihrer Produkte keine »wissenschaftlichen Beweise« gebe, waren ihre Akten voller Untersuchungsergebnisse, die das Gegenteil belegen. In ähnlicher Weise hat Exxon seine Finanzkraft genutzt, um den Amerikanern einzureden, dass es keine eindeutigen Belege für die globale Erwärmung gebe, obwohl die National Academy of Sciences sich mit allen anderen nationalen Wissenschaftsorganisationen einig ist, dass überzeugende Beweise dafür vorliegen. Und während die Wirtschaft noch unter den Vergehen des Finanzsektors und ihren Folgen litt, offenbarte die Ölpest im Golf von Mexiko nach der Explosion der BP-Förder-plattform Deepwater Horizon einen weiteren Aspekt fahrlässigen Unternehmertums: Die mangelnde Sorgfalt beim Bohren hatte die Umwelt und die Arbeitsplätze von Tausenden Menschen gefährdet, die im Golf von Mexiko von Fischfang und Tourismus lebten. Wenn die Märkte ihr Versprechen, den Lebensstandard der meisten Menschen zu heben, eingehalten hätten, dann wären den Unternehmen all ihre Sünden, all die sozialen Ungerechtigkeiten, die Umweltschädigungen und die Ausbeutung der Armen vielleicht verziehen worden. Aber nach Ansicht der jungen indignados und der Demonstranten anderswo auf der Welt produziert der Kapitalismus nicht das, was er versprochen hat, sondern das, was er nicht versprochen hat: Ungleichheit, Umweltverschmutzung, Arbeitslosigkeit und, was am wichtigsten ist, einen Werteverfall bis zu dem Punkt, an dem alles einfach hingenommen wird und niemand mehr verantwortlich ist.