KAPITEL 3

Märkte und Ungleichheit

Im vorherigen Kapitel habe ich die Rolle des Rent-Seeking bei der Entstehung des hohen Maßes an Ungleichheit in der amerikanischen Gesellschaft betont. Ein anderer Ansatz zur Erklärung der Ungleichheit legt den Fokus auf abstrakte Marktkräfte. Nach dieser Auffassung hatten die mittleren und unteren Einkommen einfach Pech, dass die Marktkräfte so wirkten, wie sie es taten – mit der Folge, dass die Löhne einfacher Arbeiter sanken, während die Einkommen hochqualifizierter Banker sprunghaft anstiegen. Diese Sichtweise geht von der stillschweigenden Annahme aus, dass es immer riskant sei, den Wundern, die der Markt vollbringt, ins Handwerk zu pfuschen, und dass man daher bei jedem Versuch, den Markt zu »korrigieren«, vorsichtig sein sollte.

Ich sehe das etwas anders. Ich gehe von der Beobachtung aus, die in den Kapiteln 1 und 2 ausführlich dargelegt wurde: Andere fortgeschrittene Industrieländer mit ähnlichem technischem Entwicklungsstand und Pro-Kopf-Einkommen unterscheiden sich erheblich von den Vereinigten Staaten, was das Gleichheitsgefälle bei Einkommen vor Steuern (vor Transfers), nach Steuern und Transfers, in puncto Vermögen und ökonomischer Mobilität anbelangt. Auch in Bezug auf die längerfristigen Trends bei diesen vier Variablen heben sich die USA deutlich von diesen anderen Industrienationen ab. Warum aber unterscheiden sich scheinbar ähnliche fortgeschrittene Industrieländer so stark voneinander, wenn Märkte die wichtigste Triebkraft sind? Unsere Hypothese lautet, dass Marktkräfte durchaus wirksam sind, aber nicht unabhängig von der Politik, sondern von dieser gestaltet werden. Gesetze, Regulierungen und Institutionen setzen Märkten einen Ordnungsrahmen. Jedes Gesetz, jede Regulierung, jede institutionelle Vereinbarung hat Verteilungskonsequenzen  – und so, wie unsere Marktwirtschaft gestaltet ist, begünstigt sie die Begüterten und benachteiligt alle anderen.

In diesem Kapitel geht es um einen weiteren Faktor, der das Maß an gesellschaftlicher Ungleichheit bestimmt. Nicht nur der Staat nimmt auf die Marktkräfte Einfluss, auch gesellschaftliche Normen und Institutionen wirken auf den Markt ein. Tatsächlich ist die Politik häufig Ausdruck gesellschaftlicher Normen und verstärkt diese noch. In vielen Gesellschaften setzt sich die Unterschicht in überproportionalem Umfang aus Gruppen zusammen, die auf die eine oder andere Weise unter Diskriminierung leiden. Das Ausmaß dieser Diskriminierung hängt von gesellschaftlichen Normen ab. Wir werden sehen, wie der Wandel sozialer Normen – etwa hinsichtlich der Frage, was eine angemessene Vergütung ist – und Institutionen wie etwa Gewerkschaften sich auf die Einkommens- und Vermögensverteilung in den USA ausgewirkt hat. Diese sozialen Normen und Institutionen existieren wie die Märkte nicht in einem Vakuum: Auch sie werden zum Teil vom obersten einen Prozent geprägt.

Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht
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