Alternative Ungleichheitsmodelle
Dieses Kapitel drehte sich um unterschiedliche Theorien zum Thema Ungleichheit; in manchen scheint die Ungleichheit stärker »gerechtfertigt«, das Einkommen der Reichen »verdienter« und der Preis für die Begrenzung der Ungleichheit und eine Umverteilung höher zu sein als in anderen. Das »leistungsbasierte« Modell der Einkommensbestimmung konzentriert sich auf die Arbeitsanstrengungen jedes Einzelnen; und wenn Ungleichheit weitgehend das Ergebnis von Leistungsunterschieden wäre, dann könnte man kaum etwas dagegen einwenden, und es erschiene ungerecht und ineffizient, Leistung nicht zu belohnen. Die typisch amerikanischen Aufstiegsgeschichten, von denen in Kapitel 1 die Rede war, gehören zu dieser Tradition: In den über hundert Geschichten vom Tellerwäscher, der zum Millionär wurde, hat sich der Held durch eigene Anstrengung aus der Armut befreit. Daran mag ein Körnchen Wahrheit sein, aber es ist nur ein Körnchen. Denn in Kapitel 1 wurde deutlich, dass der Erfolg eines Menschen hauptsächlich durch seine Ausgangsbedingungen determiniert wird, durch das Einkommen und das Bildungsniveau seiner Eltern. Auch Glück spielt eine wichtige Rolle.
Die zentrale These dieses Kapitels und des vorangehenden lautet, dass Ungleichheit außerdem kein Naturgesetz, nicht abstrakten Marktkräften geschuldet ist. Anders als die Lichtgeschwindigkeit, auf die wir keinen Einfluss haben, geht die Ungleichheit in sehr hohem Maße auf politische Entscheidungen zurück, welche die technische Entwicklung und die Märkte ebenso prägen wie die Gesellschaft als solche. Darin liegt ein Moment der Hoffnung wie auch der Verzweiflung: Hoffnung, weil es bedeutet, dass diese Ungleichheit nicht unvermeidlich ist und dass man durch eine andere Politik eine effizientere und (ökonomisch) stärker auf Gleichheit ausgerichtete Gesellschaft verwirklichen kann; Verzweiflung, weil die politischen Prozesse, die in diese politischen Entscheidungen münden, so schwer zu ändern sind.
Es gibt eine Quelle der Ungleichheit, insbesondere im unteren Einkommensbereich, von der in diesem Kapitel kaum die Rede war. Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches befinden wir uns noch immer in der schlimmsten Rezession seit der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre. Makroökonomisches Missmanagement in all seinen Erscheinungsformen aber ist eine Hauptursache von Ungleichheit. Arbeitslose haben ein deutlich erhöhtes Armutsrisiko, das umso mehr steigt, je länger die Rezession andauert. Die Spekulationsblase vermittelte einigen wenigen Mittellosen eine Illusion von Wohlstand, aber nur kurzzeitig; als die Blase schließlich platzte, vernichtete sie das Vermögen derer, die sich am unteren Ende der Einkommensverteilung befinden, verschärfte die Ungleichheit in puncto Vermögensverteilung sowie die prekäre Lebenssituation der Unterprivilegierten. In Kapitel 9 werde ich darlegen, inwiefern die makroökonomische (und insbesondere die Geld-) Politik der Vereinigten Staaten und vieler anderer Länder die Interessen und Ideologien der Reichen widerspiegelt.
Außerdem werde ich mich im Folgenden mit »negativen Dynamiken« und »Teufelskreisen« befassen. Wir sahen im letzten Kapitel, dass ein höheres Maß an monetärer Ungleichheit zu einem Abbau der Chancengleichheit führt, wodurch sich die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter öffnet. Im nächsten Kapitel werden wir weitere Beispiele für Abwärtsspiralen kennenlernen, wenn etwa Ungleichheit dazu führt, dass wir uns nicht mehr als Kollektiv begreifen, das gemeinsam dafür sorgt, dass jeder sein Potenzial ausschöpfen kann, weil die Gemeinschaft zum Beispiel in ausreichendem Umfang leistungsfähige öffentliche Schulen zur Verfügung stellt. Ungleichheit, so werden wir sehen, fördert Instabilität, die ihrerseits die Ungleichheit vorantreibt.