KAPITEL 5
Eine Gefahr für die Demokratie
Wir haben gesehen, dass das gegenwärtige Maß an Ungleichheit in den USA und vielen anderen Ländern nicht auf das spontane Wirken abstrakter Marktkräfte zurückgeht, sondern von politischen Entscheidungen geprägt und verstärkt wurde. Die Parteipolitik ist das Schlachtfeld, auf dem um die Frage gerungen wird, wie der ökonomische Kuchen einer Nation aufgeteilt werden soll. Das oberste Prozent hat diese Schlacht gewonnen. So sollte es in einer Demokratie nicht sein. In einem System, in dem jeder Bürger eine Stimme hat, sollten 100 Prozent der Bürger zählen. Die moderne politische und volkswirtschaftliche Theorie sagt vorher, dass die Ergebnisse von Wahlen, bei denen jeder Bürger eine Stimme hat, die Ansichten des Durchschnittsbürgers, nicht die der Eliten widerspiegeln sollten. Genauer ausgedrückt, sagt die Standardtheorie, die von Individuen mit genau definierten Präferenzen ausgeht, die sich bei ihrem Abstimmungsverhalten von ihren persönlichen Interessen leiten lassen, vorher, dass das Ergebnis demokratischer Wahlen die Anschauungen des »medianen« Wählers – also der Person genau in der Mitte – widerspiegeln sollte. In Bezug auf die Einstellung zu den öffentlichen Ausgaben zum Beispiel prognostiziert sie, dass die eine Hälfte der Wähler sich für mehr und die andere Hälfte sich für weniger Ausgaben ausspricht.1 Aus den Umfragen geht jedoch durchweg hervor, dass zwischen dem, was die meisten Wähler wollen, und dem, was das politische System liefert, Welten klaffen.
Im Anschluss an die Große Rezession herrscht Ernüchterung nicht nur über das weltwirtschaftliche System, sondern auch darüber, wie die politischen Systeme in vielen westlichen Demokratien funktionieren. Diese Desillusionierung fand ihren Niederschlag in den Occupy-Wall-Street- und Indignado-Bewegungen weltweit. Dass unser Wirtschaftssystem gravierende Mängel aufweist, liegt auf der Hand; aber genauso unverkennbar ist, dass die amerikanische Politik nicht einmal damit begonnen hat, diese zu beheben. Die meisten Amerikaner sind überzeugt davon, dass die neuen gesetzlichen Vorschriften zur Regulierung des Finanzmarkts (Dodd-Frank Act) nicht weit genug gehen, und sie haben Recht. Schon vor der Krise wusste man, dass Banken die Bildungslücken oder unzureichende Information ihrer Kunden großflächig und gezielt ausnutzen, um sie dazu zu bewegen, ausbeuterische Kredite aufzunehmen. Es wäre im Interesse der meisten Amerikaner gewesen, diese ebenso einzudämmen wie die missbräuchlichen Kreditkartenpraktiken – die leichtfertige Ausgabe von Karten mit großen Verfügungsrahmen und zu überhöhten Zinsen. Aber das geschah nicht. Die US-Bundesregierung unternahm wenig, um Banken, die gegen das Gesetz verstießen, strafrechtlich zu belangen; wie wir in Kapitel 7 sehen werden, tat sie sogar weit weniger als in der vergleichsweise harmlosen Bausparkassen-Krise vor zwanzig Jahren. Die New York Times schilderte, wie die US-Börsenaufsicht, die Investoren vor Betrug schützen soll, »es wiederholt zugelassen hat, dass sich die größten Unternehmen Sanktionen entzogen, die sich eigens gegen betrügerische Machenschaften richten«.2
Weshalb besaß die »Mitte« nicht den politischen Einfluss, den sie laut Standardtheorie haben sollte, und warum scheint unser gegenwärtiges System nach dem Grundsatz »ein Dollar – eine Stimme« statt »eine Person – eine Stimme« zu funktionieren? In den vorangegangenen Kapiteln sahen wir, wie die Politik die Märkte gestaltet: Die Politik legt die ökonomischen Spielregeln fest, und die Karten sind zugunsten des obersten einen Prozents gezinkt. Das hängt zumindest zum Teil damit zusammen, dass auch die politischen Spielregeln maßgeblich von diesem einen Prozent festgelegt werden.
In dieser Geschichte sind zwei Elemente entscheidend: zum einen die gezielte Manipulation der öffentlichen Wahrnehmung, so dass sich die 99 Prozent die Interessen des einen Prozents zu eigen machen. Darum wird es im nächsten Kapitel gehen. Zum anderen haben die ökonomischen und politischen Aspekte demokratischer Wahlen eine Schlüsselfunktion. Darauf konzentriere ich mich in diesem Kapitel.