Das Kriegsgerät

Es gibt ein echtes Schlachtfeld der Ideen. Aber diese Schlacht hat kaum etwas mit dem wissenschaftlichen Wettstreit der Ideen gemein, in dem empirische Daten und theoretische Erklärungsansätze sorgfältig geprüft und gegeneinander abgewogen werden. Es ist ein Schlachtfeld der »Überzeugungen«, der »Bezugsrahmen«, auf dem man nicht unbedingt die Wahrheit einer Sache zu ergründen sondern vielmehr zu verstehen sucht, wie Anschauungen entstehen und wie sie sich beeinflussen lassen.

In diesem Kampf der Ideen spielen bestimmte Waffen eine besondere Rolle. Im letzten Kapitel diskutierten wir eine davon: die Medien. Es sollte offensichtlich sein, dass eine unausgewogene Medienberichterstattung dafür sorgt, dass der Gegner von vornherein benachteiligt ist.

Doch wie immer Ideen auch verbreitet werden: In dem eigentlichen Kampf sind im Wesentlichen die Bezugsrahmen von Belang, und die werden mittels Worten durchgesetzt. Die Worte, die wir benutzen, können Vorstellungen von Fairness und Legitimität und damit positive Gefühle vermitteln oder aber Vorstellungen und Entzweiung, Selbstsucht und Illegitimität. Worte schaffen auch darüber hinaus Bezüge. Im amerikanischen Sprachgebrauch hat »Sozialismus« eine ganz ähnliche Bedeutung wie »Kommunismus«, und Kommunismus ist die Ideologie, die wir sechzig Jahre lang bekämpften und die wir erst 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer besiegten. Daher versetzt es jedem beliebigen Diskussionsthema den Todesstoß, wenn man ihm das Etikett »Sozialismus« anhängt. Das amerikanische Gesundheitsprogramm zur Versorgung älterer Menschen, Medicare, ist ein System mit einem Beitragszahler: Der Staat zahlt die Rechnung, und der einzelne Versicherte kann sich den Leistungsanbieter aussuchen. Die meisten älteren Amerikaner lieben Medicare. Aber viele sind auch derart fest davon überzeugt, der Staat sei gar nicht in der Lage, Dienstleistungen effizient zu erbringen, dass sie glauben, Medicare müsse privat finanziert sein. In der turbulenten Diskussion über die von Präsident Obama vorangetriebene Gesundheitsreform schleuderte ein Mann seinem Abgeordneten zornig entgegen: »Lasst bloß eure verdammten Regierungspfoten von meiner Medicare!«34 Die Konservativen prangern die Einbeziehung der übrigen Bevölkerung in Medicare als »Sozialismus« an. Damit ist die Debatte beendet. Man braucht nicht darüber zu diskutieren, ob das System effizient oder ineffizient ist, die Versorgungsqualität gut oder schlecht, ob der Versicherte Wahlmöglichkeiten hat oder nicht.

Die Amerikaner sind marktgläubig geworden, und Leistungsanreize sorgen dafür, dass Märkte funktionieren. Wenn daher ein Arbeitsentgelt als »Leistungslohn« etikettiert wird, bekommt es sofort einen Heiligenschein; das Etikett genügt als Rechtfertigung, die Höhe dieser Entlohnung ist dann vollkommen egal. Überhöhte Vergütungen sind immer mal wieder ein politisches Thema. Im Jahr 1993, zu Beginn der Amtszeit von Präsident Clinton, erreichte die Kritik ein solches Ausmaß, dass die Regierung beschloss, eine Zusatzsteuer auf Gehälter von über einer Million Dollar zu erheben. Doch dann wurde für leistungsbezogene Vergütungen eine Ausnahme gemacht.35 Damit schuf man natürlich einen Anreiz, alle hohen Gehälter als leistungsbezogene Vergütung zu deklarieren  – allerdings auch eine ganze Reihe von Fehlanreizen, deren Auswirkungen weit über Arbeitsentgelte hinausgingen.

Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Kreditkartenunternehmen erlegen Einzelhändlern, die ihre Karten akzeptieren, Regeln auf. Eine dieser Regeln ist das sogenannte Preisaufschlagsverbot. Es verbietet Einzelhändlern, die Gebühren für Kreditkartentransaktionen an ihre Kunden weiterzugeben. Aber das Preissystem funktioniert nur, wenn die Verbraucher die Kosten kennen, die mit ihren Entscheidungen verbunden sind. Beim Kauf entscheidet man sich für einen bestimmten Zahlungsmodus. Niemand würde behaupten, es sei ein »Aufschlag«, für ein teures Produkt mehr zu berechnen als für ein billiges. Aber dadurch, dass Kreditkartenunternehmen jede Gebühr als Aufschlag einstufen, versuchen sie die Gebühr als unangemessen hinzustellen. Sie wollen den Kunden einreden, dass eine solche Gebühr derart unzumutbar ist, dass sie Einzelhändler, die solche Gebühren berechnen, boykottieren sollten, um so die Händler dazu zu bewegen, keine Gebühren zu erheben. Der Verzicht auf eine ausdrückliche (Zusatz-)Gebühr bedeutet, dass die Kreditkartenunternehmen die Gebühren, die sie Einzelhändlern berechnen, stark anheben können  – bis nahe an die »Belastungsgrenze«, wo der Händler eher auf den Kunden verzichten als die Gebühr bezahlen würde.

Ein letztes Beispiel betrifft die Preisbildungsfunktion der Märkte. In gut funktionierenden Märkten ist die Nachfrage gleich dem Angebot, und der daraus resultierende Gleichgewichtspreis »enthüllt« den Grenznutzen des Gutes für den Käufer und die Grenzkosten für den Verkäufer. Diese Information ist für die Entscheidungsfindung nützlich. Viele Ökonomen behaupteten, in den Preisen (Kursen), die sich an einem Aktienmarkt bilden, spiegele sich analog dazu der wahre Wert des Wertpapiers wider. »Gleichgewichtspreis« ist ein gefühlsbetonter Begriff, und die Märkte sollten vermutlich dafür gelobt werden, dass sie diese wichtige soziale Funktion erfüllen. Tatsächlich behaupteten Marktbefürworter, Märkte seien vollkommen effizient und die Preise offenbarten daher sämtliche Informationen, die den Marktteilnehmern zugänglich seien. Dies war gleichsam eine religiöse Glaubensfrage, ein Glaubensartikel. Der Sprachgebrauch ist wichtig: Weil »Effizienz« gut ist, sind selbstverständlich auch vollkommen effiziente Märkte gut. Aber diese Annahme beruhte auf einem grundlegenden Denkfehler. Wenn Märkte allen Marktteilnehmern sämtliche Informationen vollständig offenbaren würden, dann hätte tatsächlich niemand einen Anreiz, Informationen über öffentlich gehandelte Wertpapiere zu sammeln, da ja auch diejenigen, die dafür kein Geld ausgeben würden, den gleichen Zugang zu Informationen hätten. Wenn die Effizienzmarkthypothese zuträfe, würde dies ironischerweise bedeuten, dass Aktienmärkte notwendigerweise sehr ineffizient wären, da niemand irgendwelche Informationen sammeln würde.36

Im Anschluss an die Große Rezession hat das Effizienzmarktmodell eine Schlappe hinnehmen müssen.37 Doch in der Zwischenzeit berufen sich einige Befürworter freier Märkte weiterhin auf das Argument der »Preisbildung«, um Marktveränderungen zu verteidigen, die die Märkte in Wirklichkeit volatiler machten und ihre Effizienz einschränkten.

Ein entscheidender Wandel vollzog sich um die Jahrhundertwende: Der größte Teil des Börsenhandels (2009 61 Prozent, 2010 53 Prozent) wird seither von Computern abgewickelt, die unter Verwendung gewisser Algorithmen mit anderen Computern handeln. Kauf- und Verkaufsangebote basieren nicht auf Marktforschung, auf fundierten Einschätzungen der zukünftigen Geschäftsaussichten etwa der Stahlindustrie oder der Effizienz eines ganz bestimmten Stahlherstellers, sondern auf den Informationen, die sich den Preis- und Handelsmustern entnehmen lassen, sowie auf allen sonstigen Informationen, die ein Computer schnell aufnehmen und verarbeiten kann. Kauf- und Verkaufsofferten werden für eine Nanosekunde aufrechterhalten. Wer vorschlägt, eine Firma, die ein Kaufangebot für eine Aktie zu einem bestimmten Preis abgibt, möge dieses Angebot eine Sekunde lang aufrechterhalten, bekommt als Antwort zu hören: »Wollen Sie etwa ins Mittelalter zurück?« Die Preise, die in diesen Nanosekunden festgelegt werden, sind selbstverständlich für reale Entscheidungen irrelevant. Keine Stahlfirma würde ihre Entscheidung darüber, ob sie expandiert oder schrumpft, von diesen Mikroanpassungen der Aktienkurse abhängig machen. Die Befürworter des automatisierten Handels behaupten, die Märkte würden liquider (»tiefer«), aber es ist eine Liquidität, die verschwindet, wenn sie gebraucht wird, nämlich dann, wenn eine wirkliche Störung auftritt, an die sich der Markt anpassen muss. Das sogenannte Algo-Trading hatte zur Folge, dass am Markt noch nie dagewesene heftige Kursschwankungen auftraten. An einem einzigen Tag, dem 6. Mai 2010, brachen die Aktienkurse so stark ein, dass der Dow Jones vorübergehend zehn Prozent an Wert verlor, unter anderem wegen eines jähen Absturzes um fast 600 Punkte innerhalb von nur fünf Minuten.38 Vor dem Ende dieses Handelstages machte der Markt einen Großteil dieser Verluste wieder wett, und zwar genauso schnell, wie sie eingetreten waren. Niemand konnte behaupten, der wahre Wert der nationalen Aktiva habe sich in dieser kurzen Zeitspanne verringert. Doch das ständige Gerede von »Gleichgewichtspreis«, »Preisbildung« und »effizienten Märkten« erzeugte den Nimbus, der diese Art von Blitzhandel nicht nur akzeptabel, sondern auch wünschenswert erscheinen ließ.

Tatsächlich gibt es Gründe zu der Annahme, dass das Algo-Trading Märkte nicht nur volatiler, sondern auch weniger »informativ« macht. Computer versuchen mithilfe komplexer mathematischer Algorithmen dem Markt sämtliche Informationen zu entlocken, in einer modernen und ausgetüftelteren Version des sogenannten Front Running, jener illegalen Aktivitäten alten Stils, bei denen Broker Informationen, die sie von Kunden erhalten, die ihnen Aufträge erteilen, dazu nutzen, sich selbst zu bereichern. Die Marktteilnehmer wissen das natürlich. Wenn ein Marktforscher entdeckt, dass sich die Geschäfte eines Unternehmens bald hervorragend entwickeln sollten (weil es gerade eine gewinnträchtige Entdeckung gemacht hat), wird er vielleicht schnell einen großen Kaufauftrag erteilen. Aber die Computertrader würden dies sofort bemerken und versuchen, seine Informationen zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Heute kennt der erste Trader natürlich die Regeln des Spiels, so dass er niemals eine große Order, sondern nur eine Vielzahl kleiner Aufträge erteilen würde. Mittlerweile findet eine Art Wettrüsten statt, bei dem diejenigen, die die mühsame Marktforschung betreiben, versuchen, ihre Informationen gegen den automatisierten Handel abzuschirmen, während die Programmierer versuchen, den Code der Marktforscher zu knacken. Man könnte einwenden, es sei bloß eine Vergeudung von Ressourcen – ein Kampf um die Renten, die mit frühzeitiger Information verbunden sind. In den Nanosekunden der verfeinerten Preisbildung würden keine Entscheidungen getroffen. Aber es ist weitaus schlimmer. Insoweit es dem Algo-Trading gelingt, diejenigen auszutricksen, die Marktforschung betreiben, sinkt deren Rendite; es wird folglich weniger in die Informationsbeschaffung investiert, und die Märkte werden weniger an für uns wichtiger Information bereitstellen.

Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht
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