Im Sog der Großen Rezession
Die ökonomische Kluft in Amerika ist mittlerweile so breit, dass sich das eine Prozent kaum noch vorstellen kann, unter welchen Verhältnissen die Menschen in einkommensschwachen und in zunehmendem Maße auch in Mittelschicht-Haushalten leben. Betrachten wir einen Moment lang einen Haushalt mit einem Alleinverdiener und zwei Kindern. Angenommen, der Verdiener ist bei guter Gesundheit und arbeitet volle 40 Stunden pro Woche (die durchschnittliche Wochenarbeitszeit amerikanischer Arbeitnehmer beträgt nur 34 Stunden),35 zu einem Lohn, der geringfügig über dem Mindestlohn liegt: sagen wir rund 8,50 Dollar pro Stunde, so dass ihm nach Abzug des Beitrags zur staatlichen Rentenversicherung 8 Dollar pro Stunde bleiben; für seine 2080 Stunden (jährliche Arbeitszeit) erhält er somit 16 640 Dollar. Angenommen, er zahlt keine Einkommensteuer, aber sein Arbeitgeber zieht ihm monatlich 200 Dollar für die Krankenversicherung für seine ganze Familie ab und steuert den Rest zu den monatlichen Versicherungskosten von 550 Dollar bei. Sein jährlicher Nettoverdienst beträgt dann 14 240 Dollar. Wenn er Glück hat, findet er eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern für 700 Dollar (einschließlich Nebenkosten) pro Monat. Es bleiben ihm also 5840 Dollar für alle anderen Familienausgaben, die in einem Jahr anfallen. Wie für die meisten Amerikaner ist auch für ihn ein Auto ein Gut des täglichen Bedarfs; Versicherung, Kraftstoff, Instandhaltung und Abschreibung auf das Fahrzeug können leicht 3000 Dollar verschlingen. Der Familie bleiben somit 2840 Dollar – weniger als 3 Dollar pro Person pro Tag –, um Ausgaben für Grundgüter wie Nahrungsmittel und Bekleidung abzudecken, ganz zu schweigen von Dingen, die das Leben lebenswert machen, wie Unterhaltung. Es gibt keinerlei Puffer für den Fall, dass etwas Unvorhergesehenes geschieht.
Als Amerika in die Große Rezession rutschte, trat für unsere hypothetische Familie und für Millionen von Amerikanern im gesamten Land genau dieser Fall ein. Arbeitsplätze gingen verloren, ihre Häuser – ihr wichtigster Vermögenswert – verzeichneten dramatische Wertverluste, und als dann die Staatseinnahmen zurückgingen, wurden soziale Sicherungssysteme just dann gestutzt, als sie am dringendsten benötigt wurden.
Schon vor der Krise lebten die Armen in Amerika am Rand des Abgrunds; aber mit der Großen Rezession gilt dies in zunehmenden Maße auch für die Mittelschicht. Diese Krise hat jede Menge menschlicher Tragödien verursacht: Eine einzige versäumte Hypothekenrate endet im Verlust des Hauses; der Verlust der Wohnung endet in Arbeitslosigkeit und zerstörten Familien.36 Diese Familien mögen einen Schock verkraften können, doch der zweite bricht ihnen das Genick. Da etwa fünfzig Millionen Amerikaner nicht krankenversichert sind, kann eine einzige Erkrankung die gesamte Familie an den Rand des Ruins treiben;37 eine zweite Erkrankung, der Verlust eines Arbeitsplatzes oder ein Verkehrsunfall gibt ihnen dann womöglich den Rest. Tatsächlich haben neuere Studien gezeigt, dass die Krankheit eines Familienmitgliedes die mit Abstand wichtigste Ursache für Privatinsolvenzen ist.38
Um zu sehen, inwiefern bereits geringfügige Veränderungen sozialer Sicherungsprogramme weitreichende Folgen für arme Familien haben können, wollen wir zu unserer Familie zurückkehren, die 2840 Dollar im Jahr ausgeben kann. Als die Rezession andauerte, kürzten viele US-Bundesstaaten ihre Zuschüsse zur Kinderbetreuung. Im Bundesstaat Washington beispielsweise belaufen sich die durchschnittlichen monatlichen Kosten für die Betreuung zweier Kinder auf 1433 Dollar.39 Wenn es kein staatliches Betreuungsgeld gibt, würden die Kosten also sofort die Hälfte dessen aufzehren, was die Familie an Geld übrig hat, so dass ihr für alles andere weniger als 1,30 Dollar pro Tag und Person blieben.